Essen/Witten. Klimawandel, Krieg und Krisen - oft entscheiden sich Paare gegen Nachwuchs. Ist die Welt zu schlecht für Kinder oder gibt es andere Gründe dafür?

Trauriger Rekord: 2023 wird nach Meinung von Klimaexperten wohl das wärmste Jahr seit Beginn der Messungen werden. Etwa ein Viertel der jungen Menschen unter 30 Jahren will in dieser vom Klimawandel geprägten Zeit keine Kinder bekommen, ergab kürzlich eine Forsa-Umfrage. Was bewegt die Menschen? Wollen sie ihren möglichen Kindern ein Leben in dieser von Krisen, Krieg und Klimawandel geprägten Welt ersparen? Oder stecken andere Beweggründe dahinter? Christopher Onkelbach sprach darüber mit Matthias Kettner, Professor für Praktische Philosophie sowie Experte für Psychoanalyse, Bio- und Medizinethik an der Uni Witten/Herdecke.

Warum entscheiden sich viele junge Menschen heute gegen ein Kind?

Matthias Kettner: Das kommt auf die persönlichen Umstände an. Wenn ich 25 Jahre alt wäre, hätte gerade meine Ausbildung beendet und wäre unsicher, wie es beruflich weitergeht, kann ich das verstehen. Ich würde

mir überlegen, ob ich die bedrohliche Unsicherheit umarmen und eine Familie gründen sollte.

Ist das ein Trend unter jungen Menschen?

Das ist schwer zu sagen. Ich sehe an unserer Universität viele Medizinstudierende, die recht sorglos in die Zukunft schauen und früh Kinder bekommen. Auf der anderen Seite gibt es junge Leute, die tatsächlich unter den Eindrücken der katastrophalen Weltlage leiden. Die Klimakrise ist ja nur eine von vielen. Denken Sie an die sogenannte Letzte Generation, da schwingt schon in der Selbstbeschreibung mit, dass sie sich nicht als Elternschaft für eine künftige Generation verstehen.

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Es gibt ein Endzeitgefühl, wenn es um Familienplanung geht. Viele geben den Kinderwunsch aber nicht für immer auf, sondern verschieben ihn zunächst. Diese Entwicklung kann man seit Jahrzehnten beobachten.

„Ich könnte mir gut vorstellen, dass es in Wahrheit oft um die Vermeidung von Verantwortungslasten geht“, sagt Prof. Matthias Kettner von der Uni Witten/Herdecke über junge Menschen, die wegen des Klimawandels keine Kinder bekommen wollen.
„Ich könnte mir gut vorstellen, dass es in Wahrheit oft um die Vermeidung von Verantwortungslasten geht“, sagt Prof. Matthias Kettner von der Uni Witten/Herdecke über junge Menschen, die wegen des Klimawandels keine Kinder bekommen wollen. © uni witten | Britta Radike

Ein Argument gegen den Nachwuchs lautet: Jedes Kind, das „eingespart“ wird, ist angesichts der Überbevölkerung ein Gewinn. Ist das vernünftig oder zynisch?

Das Argument bedeutet ja letztlich: Nur ein nicht geborenes Kind ist ein gutes Kind. Diese Bewertung ist offensichtlich sehr fragwürdig. Im Übrigen fällt die kleine Zahl der Geburtenverweigerer, die wirklich so denken, für die globale Bevölkerungsentwicklung der nächsten Jahrzehnte überhaupt nicht ins Gewicht. Daher finde ich das Argument weder theoretisch noch praktisch überzeugend.

Ist der Verzicht auf Nachwuchs Ausdruck einer Verantwortung für die Umwelt? Oder ist das oft nur vorgeschoben?

Es wäre anmaßend, das von außen beurteilen zu wollen. Aber ich halte es durchaus für möglich, dass das Verantwortungsargument vorgeschoben ist. Psychologen nennen es Rationalisierung. Man benennt einen vernünftigen Grund, doch bei Licht besehen steckt etwas ganz anderes dahinter. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es in Wahrheit oft um die Vermeidung von Verantwortungslasten geht und vielleicht sogar um eine egoistische Interessenverfolgung. Denn Eltern zu werden und zu sein, bedeutet auf jeden Fall, eine große und langandauernde Verantwortung.

Für viele mögliche Eltern sind die katastrophalen Folgen des Klimawandels ein Grund, keinen Nachwuchs haben zu wollen. Kann man Kindern etwas ersparen, indem man sie gar nicht erst in die Welt setzt?

Das ist ein widersprüchliches Argument. Einem Wesen, das noch gar nicht da ist, kann man nichts ersparen. Das ist absurd. Aus ethischer Sicht sage ich: Falls ich ganz sicher wüsste, dass mein Kind ein furchtbar schlechtes Leben haben wird, dann hätte ich womöglich einen Grund. Aber das kann niemand mit Sicherheit sagen. Für mich ist das der Ausdruck eines heillosen Pessimismus‘ und einer totalen Resignation. So zu denken bedeutet ja, jede Hoffnung aufzugeben, dass die Menschheit es schafft, eine lebenswerte Welt zu erhalten.

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Auf eine mögliche Elternschaft mit dem Argument zu verzichten, dass die Kinder kein lebenswertes Leben haben werden, ist nur unter ganz seltenen Umständen ein sinnvoller Gedanke. Etwa wenn ich ganz sicher wüsste, dass das Kind schwerstbehindert sein und ein sehr kurzes Leben haben wird. Aber das wären dann ganz persönliche Gründe, die sich keinesfalls verallgemeinern lassen.

Haben Sie Kinder?

Ja, zwei. Sie sind 27 und 29 Jahre alt. Es wäre abwegig sich vorzustellen, man würde seinen Kindern heute sagen, ich hätte euch angesichts der schlimmen Weltlage besser nicht gezeugt. Und umgekehrt ist es doch so: Die in 20 Jahren unter den Folgen des Klimawandels leiden, werden wohl kaum ihren Eltern vorwerfen, dass sie sie überhaupt zur Welt gebracht haben.

Denkt man anders über die Frage der Nachkommenschaft, wenn man bereits Kinder hat?

Ja, das ist ein Riesenunterschied. Wenn man auf seine Kinder blickt, käme einem der Gedanke absurd vor, sie besser nicht in die Welt gesetzt zu haben. Ich glaube, so denken nach wie vor die meisten von uns.