An Rhein und Ruhr. Über 639 Todesfälle durch Angriffe auf Obdachlose zählt die Wohnungslosenhilfe seit 1989. Der jüngste Fall in Moers ist einer davon.

Tritte, Schläge oder sogar Messerstiche - in den vergangenen Wochen und Monaten sorgten drei Fälle von massiver Gewalt gegen Wohnungslose für Entsetzen in NRW. Der jüngste Fall ereignete sich Anfang Februar in Moers. Insgesamt sind Angriffe dieser Art kein neues Phänomen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zählt 639 tödliche Übergriffe seit 1989. Wohungs- und Obdachlose in NRW haben Angst vor weiteren Attacken.

Gewalt gegen Wohnungslose: Beschimpft und mit Steinen beworfen

Michael - dunkle Regenjacke, Schirmmütze und Vollbart - sitzt auf einem Stuhl vor der Sozialberatung des Straßenmagazins FiftyFifty an der Höhenstraße in Düsseldorf. Sein mit ungezählten Taschen und Tüten beladenes Fahrrad immer im Blick. Die jüngsten Angriffe auf Wohnungslose machen auch ihm Sorgen. Er wurde selbst bereits Opfer.

Der wohnungslose Michael (47) aus Düsseldorf berichtet von einem tätlichen Übergriff von Jugendlichen gegen ihn.
Der wohnungslose Michael (47) aus Düsseldorf berichtet von einem tätlichen Übergriff von Jugendlichen gegen ihn. © NRZ | Tobias Kaluza

Der 47-Jährige, der seit mehreren Jahren auf der Straße lebt, berichtet von einem Vorfall am Kunstpalast in Düsseldorf. „Ich saß dort an einem frühen Abend mit einer Freundin und es kam eine Gruppe von fünf Jugendlichen auf uns zu.“ Unvermittelt hätten die fünf – er schätzt ihr Alter auf 15 bis 17 Jahre – die beiden mit Steinen beworfen und beschimpft.

Wohnungslos oder obdachlos?

Zwei Begriffe, die oft verwechselt und gleichgesetzt werden. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied, den die Diakonie auf ihrer Internetseite erklärt: „Wohnungslosigkeit ist der übergreifende Begriff, Obdachlosigkeit bezeichnet lediglich einen Teil der Wohnungslosigkeit.“

Als wohnungslos werden demnach alle Menschen bezeichnet, die über keinen gemieteten oder eigenen Wohnraum verfügen, vorübergehend bei Verwandten oder Bekannten untergekommen sind oder in Einrichtungen leben.

Als obdachlos werden Menschen bezeichnet, die im öffentlichen Raum wie in Parks, Gärten, U-Bahnhöfen, Kellern oder Baustellen übernachten oder über vorübergehend untergebracht sind.

Angst vor Übergriffen auf der Straße

Erst als ein Zeuge hinzukam, hätten sich die Jugendlichen verzogen. Michael geht seitdem Situationen, in denen er wieder angegriffen werden könnte aus dem Weg. „Ich habe mich in dem Moment machtlos gefühlt. Das war beängstigend, denn man weiß ja nicht, ob die nicht plötzlich ein Messer ziehen.“

Der 57-jährige Helmut derweil berichtet, dass er aus Angst vor Übergriffen gar nicht mehr auf der Straße schlafe, sondern nur in Notunterkünfte gehe. „Man weiß nicht, was draußen passiert und schläft nie richtig, weil man immer Acht geben muss.“ Auch in den Unterkünften gebe es Probleme, sagt er. Dennoch sei es besser als auf der Straße.

NRW: Drei brutale Attacken, zwei Todesopfer

Am 16. Februar starb ein 58-Jähriger Wohnungsloser in einer Moerser Klinik. Acht Tage zuvor waren er und ein anderer Wohnungsloser mutmaßlich von drei Jugendlichen im Alter von 15, 16 und 17 Jahren attackiert worden. Diese hätten auch gegen die Köpfe ihrer Opfer getreten. Die Polizei ermittelt gegen die drei Jugendlichen und ob die durch die Täter verursachten Verletzungen der Grund für den Tod des 58-Jährigen waren.

Tödlich endete auch ein Angriff auf einen 47-Jährigen Obdachlosen in Horn-Bad Meinberg im Kreis Lippe. Ende Oktober haben drei heute 15-Jährige auf den Mann eingeschlagen und ihn schließlich erstochen. Ende Februar wurden die Jugendlichen wegen Totschlags zu Haftstrafen von fünf bis sechseinhalb Jahren verurteilt.

Mit schwersten Verletzungen kam ein 61-Jähriger Obdachloser in Essen davon, nachdem drei junge Männer zwischen 17 und 28 Jahren ihn Ende Januar brutal angriffen. Wie die Polizei berichtete, sei das Opfer getreten und geschlagen worden, bevor die Täter verschwanden.

Angriffe auf Obdachlose: Statistik mit hoher Dunkelziffer

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) erfasst seit 1989 Angriffe auf Obdachlose. Mittlerweile sind es 639 mit Todesfolge. Dabei seien die Fälle aus diesem Jahr noch nicht in der Statistik, so Sprecherin Berit Pohns. 288 der tödlichen Angriffe seien durch nicht-wohnungslose Täter verübt worden, 351 durch andere Wohnungslose. „Letztere Kategorie enthält auch Vorfälle, bei denen die Täter unbekannt entkommen sind.“

Die BAGW erhebt die Fälle aus Presseberichten. Es sei daher keine Vollerhebung. „Der Umfang der Gewalt ist mit Sicherheit viel höher“, so Pohns. „Wohnungslose zeigen Gewalttaten gegen sie oft nicht an.“ Zudem werde nur ein Bruchteil der Fälle öffentlich bekannt.

Die Motivation für solche Angriffe sei „eine Ideologie der Ungleichwertigkeit“, sagt Pohns. Darin sei ein Mensch weniger wert und habe weniger Rechte, da er wohnungslos ist. „Es handelt sich um eine sozialdarwinistische Abwertung.“ Die Taten seien von Vorurteilen, Ablehnung und Hass geprägt und richten sich nicht nur gegen das Opfer selbst, sondern häufig auch gegen die Gruppe, der es angehört oder zugeschrieben wird. „Die Taten zeigen Merkmale von Hassgewalt“, so Pohns. Dies sei aber nicht neu und schon in den Neunzigern beobachtet worden.

Gewalt-Experte: Täter reagieren sich an ihren Opfern ab

Meiste seien die Täter junge Männer oder männliche Jugendliche, bestätigt Professor Ulrich Wagner, Konfliktforscher von der Uni Marburg. Der Grund dafür sei, dass diese Gruppen ohnehin am auffälligsten seien, wenn es um physische Gewalt geht. „Darüber hinaus gibt es eine kleine Subgruppe von jungen Männern, für die Gewalt eine Art von Freizeitgestaltung ist. Sie lösen auch Konflikte mit Gewalt, weil sie dafür keine anderen Wege gelernt haben“, so Wagner.

Dazu komme, dass Obdachlose in der Gesellschaft negativ beurteilt werden und daher in den Augen der Täter legitime Opfer seien. „Menschen, die das Gefühl haben, im Leben zu kurz zu kommen, reagieren sich an diesen Opfern ab. Häufig sind es Gruppen, aus denen die Angriffe heraus passieren, und in denen man sich gegenseitig hochschaukelt.“