Essen. Statt eine unglückliche Beziehung zu beenden, gibt es Menschen, die darin verharren. Ein Psychologe erklärt Gründe und Warnzeichen.

Früher oder später stellen sich viele Paare die große Frage: Ist es die Liebe fürs Leben, die alle Höhen und Tiefen übersteht? Oder ist der Punkt erreicht, an dem das Zusammenleben unerträglich wird? Doch die Entscheidung, ob eine Beziehung noch Sinn macht, kann schwer fallen.

Laut dem Freiburger Psychologen und Paartherapeuten Wanja Kunstleben müssen zwei Dinge zusammenpassen, damit eine Beziehung funktioniert: Die Partner müssen zueinander passen und gleichzeitig realistisch mit der Beziehung umgehen. Liebe allein reiche nicht aus. 

Beziehung: Experte erklärt Anzeichen für eine unglückliche Ehe

„Gegensätze ziehen sich an – aber meist nur am Anfang”, sagt der Paartherapeut und Psychologe Wanja Kunstleben. Spätestens nach den ersten eineinhalb Jahren sollte das Gemeinsame in einer Beziehung wachsen, sonst beginnen die Unterschiede zu überwiegen. „Die Kommunikation wird schwierig, weil man sich nicht mehr verstanden oder wertgeschätzt fühlt”, erklärt Kunstleben. Die Folge sei oft eine abnehmende Aufmerksamkeit und eine wachsende emotionale Distanz – Veränderungen, die laut dem Psychologen oft erste Warnzeichen für eine unglückliche Ehe sind.

Auch negative Kommentare, Sarkasmus und ständige Kritik seien Anzeichen dafür, dass sich die Partner emotional voneinander entfernen. „Eine unglückliche Beziehung ist oft von einer negativen emotionalen Atmosphäre geprägt, in der positive Gefühle und Wertschätzung immer mehr schwinden”, sagt Kunstleben. So könnten sarkastische Bemerkungen über den Partner versteckte Kritik oder Unzufriedenheit enthalten, die der Partner nicht laut auszusprechen wagt. Auch das Lästern über den Partner hinter dessen Rücken zeigt nach Ansicht des Experten, dass die Zuneigung in der Beziehung nachlässt.

Ob direkt oder hinter vorgehaltener Hand – ein solches Verhalten führt laut Kunstleben dazu, dass sich der kritisierte Partner verletzt, unsicher oder gar missachtet fühlt. Die Folge sei oft Rückzug und Schweigen, was der ohnehin mangelhaften Kommunikation meist den letzten Stoß versetze.

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Kein Streit als Warnzeichen für eine unglückliche Beziehung

Wenn man sich über den anderen ärgert, kann es schnell passieren, dass man sich in fast jeder Alltagssituation in die Haare gerät: Der Müll, der nicht rausgebracht wird, die Wochenendplanung, über die man sich nicht einigen kann – keine Situation ist zu banal, um nicht darüber zu streiten. Doch wenn die Beziehung einem Minenfeld gleicht und beide Partner versuchen, Streit um jeden Preis zu vermeiden, kann das Gegenteil eintreten: erstickendes Schweigen.

„Wenn Paare streiten, kämpfen sie oft um die Liebe des anderen, ohne sich dessen bewusst zu sein”, erklärt der Psychologe Wanja Kunstleben. Streit sei ein Zeichen emotionaler Bindung. Anhaltende Unfähigkeit, Konflikte zu lösen, deute hingegen oft auf eine unglückliche Beziehung hin. „Paare, die Konflikten dauerhaft aus dem Weg gehen, interagieren kaum noch miteinander, sondern leben eher nebeneinander her“, so Kunstleben weiter. Das fühle sich für das Paar oft wie ein emotionaler Burnout an – das Feuer in der Beziehung sei dann oft schon erloschen.

Beziehungskrise: In der Ehe fehlt manchmal die Nähe

Kommunikation und gesundes Streiten sind wichtig, aber auch körperliche Nähe spielt laut Psychologe Wanja Kunstleben eine zentrale Rolle in einer gesunden Beziehung. Wenn sich Umarmungen oder andere zärtliche Gesten plötzlich unangenehm anfühlen, mahnt der Psychologe zur Achtsamkeit. Gleiches gilt, wenn Sex zur Pflichtübung wird oder Ausreden wie Müdigkeit und Stress zur Regel werden.

Diese Anzeichen können laut Kunstleben darauf hindeuten, dass sich die Partner emotional entfremden. „Wenn der Partner eher einem Mitbewohner gleicht, fehlt es nicht selten an Kommunikation, Reiz und Intimität in der Beziehung.“

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Warum Menschen in unglücklichen Beziehungen bleiben

Was aber hält Menschen in Beziehungen, die sie eigentlich unglücklich machen? Studien zeigen, dass oft die investierte Zeit, Emotionen und Ressourcen den Ausschlag geben. „Wer sich zum Bleiben entscheidet, rechtfertigt damit gewissermaßen seine bisherigen Investitionen“, erklärt der Psychologe Wanja Kunstleben. Ähnlich wie bei einem Glücksspiel, bei dem man bereits viel Geld verloren hat, bleibt man dabei, um sich die Niederlage nicht einzugestehen.

Kunstleben betont zudem, dass auch die Bedürfnisse des Partners eine entscheidende Rolle spielen, wenn Paare in einer unglücklichen Beziehung verharren. Oft bleibe der unzufriedene Partner aus Rücksicht oder in der Hoffnung auf Besserung. „Diese Entscheidung wird häufig von der empfundenen Abhängigkeit des Partners beeinflusst“, erklärt der Psychologe. Das Gefühl, den anderen nicht verlassen zu können, könne dann dazu führen, dass Menschen in Beziehungen bleiben, die ihnen nicht guttun.

Menschen, die in ihrer Kindheit unsichere Bindungsmuster erlebt haben, fällt laut Kunstleben die Trennung besonders schwer. „In unglücklichen Beziehungen können sich diese Beziehungsstrukturen widerspiegeln und die Partner bleiben in dem verhaftet, was ihnen nicht guttut, weil sie es gewohnt sind“, so Kunstleben.

Unglückliche Beziehung: Wann ist eine Trennung sinnvoll?

Die Entscheidung, eine unglückliche Beziehung zu beenden oder fortzusetzen, ist oft komplex und geht weit über eine einfache Pro-Contra-Liste hinaus. Der Psychologe Wanja Kunstleben rät, zunächst eine Beziehungspause einzulegen. „Eine räumliche Trennung gibt Paaren die Chance, über die eigenen Bedürfnisse nachzudenken und Klarheit zu gewinnen“, erklärt er. Fragen wie „Was erwarte ich von dieser Beziehung“ oder „Passen unsere Vorstellungen noch zusammen“ lassen sich aus der Distanz oft besser beantworten.

Wenn trotz einer Auszeit keine stimmigen Kompromisse gefunden werden und die Vorstellungen auseinanderklaffen, ist es laut Kunstleben sinnvoll, über eine Trennung nachzudenken. Insbesondere wenn man sich in der Beziehung verliert, sich fremd fühlt oder das Selbstvertrauen schwindet, kann ein Schlussstrich notwendig sein. Eine passende Metapher ist für den Psychologen das Bild einer Pflanze: „Kann ich in dieser Beziehung wachsen oder gehe ich ein? „Wenn alle Bemühungen fruchtlos bleiben, kann eine Trennung der Weg sein, um wieder aufzublühen“, betont Kunstleben.

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