Berlin. Speisekartenangst ist ein Phänomen der Gen Z. Ein Psychotherapeut sagt, was hilft und ob es sich um eine psychische Erkrankung handelt.

Immer mehr Menschen geben an, unter Speisekartenangst zu leiden. Das Phänomen zeigt sich vor allem in der Generation Z, kurz Gen Z. Junge Leute scheuen sich davor, mit der Bedienung zu interagieren und sie womöglich wieder wegzuschicken – die Situation ist für sie einfach zu unangenehm. Stattdessen schauen sich viele bereits vor der Verabredung im Restaurant die Speisekarte online an und entscheiden sich im Vorhinein für ein Gericht.

Das sei nicht unproblematisch, sagt der Berliner Diplom-Psychologe und Psychotherapeut Thomas Dürst. „Viele bestellen heutzutage über Lieferando und reden nicht mehr mit Menschen. Ich halte das für dramatisch.“

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Auch wenn sich hinter dem Begriff eine Angststörung vermuten lässt: Die Speisekartenangst gehört nicht zum klassischen Diagnose-Katalog psychischer Störungen, kann also nicht von einem Arzt oder Psychotherapeuten diagnostiziert werden. „Vielmehr könnte es sich um die spezifische Ausprägung einer Angst handeln, die eine Diagnose rechtfertigt, zum Beispiel eine soziale Phobie oder eine generalisierte Angststörung“, erklärt Dürst. Die Angst, im Restaurant zu bestellen, könne isoliert auftreten oder ein Aspekt einer größeren Angstthematik sein.

Gen Z: Soziale Phobien nehmen bei Kindern und Jugendlichen zu

Tatsächlich leiden immer mehr Menschen unter Angststörungen. Die Krankenkasse „IKK classic“ wertete Versichertendaten von 2013 bis 2022 aus. Demnach erhöhte sich der Anteil der Menschen, die an einer Angststörung leiden, von 4,8 Prozent der Versicherten im Jahr 2013 auf 6,6 Prozent im Jahr 2022 – eine Steigerung von 37,5 Prozent. Auffällig ist, dass vor allem die sozialen Phobien bei Kindern und Jugendlichen zunehmen. Laut „IKK classic“ gab es innerhalb von zehn Jahren eine Steigerung um 104,9 Prozent. 46,7 Prozent aller Fälle wurden 2022 allein bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert.

Thomas Dürst ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut.
Thomas Dürst ist Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut. © Thomas Dürst | Thomas Dürst

Eine gründliche Anamnese ist die Voraussetzung, um zu klären, ob die Speisekartenangst pathologisch, also aus Sicht der Psychologie krankhaft ist. „Spielen womöglich Ekel oder Scham auch eine Rolle? Wie geht derjenige in seiner Peergroup um? Sitzt er nur zuhause oder trifft er sich mit Menschen?“, erklärt der Psychotherapeut. Es gehe darum, die Hintergründe sowie die Vor- und Entwicklungsgeschichte von Betroffenen individuell zu betrachten. Nur so könne man herauszufinden, warum diese Angst auftritt.

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Wie sich Speisekartenangst besiegen lässt

Was tun gegen Speisekartenangst? Junge Leute müssen wieder lernen, physisch in Kontakt zu treten und Gespräche zu führen, so Thomas Dürst. Keine leichte Angelegenheit in einer Welt, in der immer seltener Gespräche geführt werden und unkompliziert auf dem Tablet bestellt wird. Es gibt einfach zu viele Vermeidungsmöglichkeiten. Wer diese Ausweichmöglichkeiten nutzt, merkt kurzfristig, dass die Angst vorm Bestellen abnimmt. Langfristig wird sie aber immer größer.

Um Ängste zu besiegen, gibt es aus verhaltenstherapeutischer Sicht deshalb nur ein Mittel: die sogenannte Exposition. „Am effektivsten ist die direkte Konfrontation: ins Restaurant gehen, eine Bestellung aufgeben – und sich so der Angst stellen“, so der Psychotherapeut. Betroffene, für die der Restaurantbesuch leidvoll ist, sollten ermutigt werden, ein Gericht von der Karte zu bestellen.

Eltern können dabei eine wichtige Rolle einnehmen. „Wie erklären sie ihren Kindern die Welt? Gehen sie mal mit ihnen essen und zeigen, wie sie ein Gericht bestellen? Es ist wichtig, Kinder selbst auch mal in Konflikte gehen zu lassen, damit sie lernen diese auch zu lösen. Sie können stolz sein, etwas selbst gelöst und erreicht zu haben und erhöhen dadurch ihren Selbstwert“, erklärt Zukunftsforscher und Gen-Z-Experte Hartwin Maas vom Institut für Generationenforschung. Ist die Speisekartenangst Bestandteil einer gesicherten Diagnose, zum Beispiel einer sozialen Phobie, empfehlen die Experten eine Psychotherapie.

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