Essen. Mit Künstlicher Intelligenz wollen Wissenschaftler im Abwasser Gesundheitsgefahren vorhersagen. Wasserforschung als Erfolgsmodell der Uni-Fusion.
Sie gehen dahin, wo es richtig stinkt. Sie nehmen Proben in den Kläranlagen der Region oder aus dem Abwasser von Krankenhäusern. „Windeln wechseln ist schlimmer“, winkt Ricarda Schmithausen ab, Ärztin und Agrarwissenschaftlerin am Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin am Uniklinikum Essen. Sie sieht den Schmutz mit dem Blick der Wissenschaftlerin: Abwasser ist ein Schatz, der viele Informationen über den Gesundheitszustand der Bevölkerung enthält.
Gemeinsam mit einem Team am Zentrum für Wasser- und Umweltforschung (ZWU) der Universität Duisburg-Essen soll in einem fachübergreifenden Forschungsprojekt der Schatz gehoben werden. „Unser Ziel ist es unter anderem, die nächste Pandemie vor der Pandemie zu erkennen“, sagt Bernd Sures, Professor für aquatische Ökologie am ZWU.
„Ein dreckiges Geschäft“
Infektionskrankheiten gefährden die Menschen, gleichzeitig nehmen Antibiotikaresistenzen zu. Bei manchen Patienten wirkt fast kein gängiges Antibiotikum mehr, so Schmithausen. Um diese Risiken frühzeitig zu erkennen und einzudämmen, kann die Sammlung und Auswertung von Daten aus dem Abwasser helfen. Hier setzt das Projekt mit dem ellenlangen Titel „Umweltassoziierte Infektionsgeschehen in Ballungsgebieten in NRW erkennen und eliminieren“ an. „Es ist ein dreckiges Geschäft“, lächelt Schmithausen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZWU. Aber es lohne sich, da die Abwasserdaten aussagekräftiger seien als jede noch so große Testkampagne. Denn: auf die Toilette muss eben jeder einmal.
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„Es geht darum, Erkenntnisse über Infektionen in einem ganzheitlichen Kontext zu gewinnen. Und unser Abwassernetz mit Abwässern aus Haushalten, und Krankenhäusern ist genau die richtige Quelle“, erklärt ZWU-Geschäftsführer Michael Eisinger. Denn dort könnten nicht nur die Erreger, sondern auch Antibiotikaresistenzen sowie die verabreichten Medikamente nachgewiesen werden. Ziel ist es, eine „Landkarte“ des Gesundheitszustands der Bevölkerung in NRW zu entwickeln.
Doch nicht nur das. Die Forscher wollen neue Virusvarianten frühzeitig erkennen und die Behörden warnen, wenn sich im Abwasser eine bedrohliche Entwicklung und etwa neues Corona-Varianten auftauchen. „Im Herbst werden die Infektionszahlen wieder ansteigen, soviel ist sicher“, sagt der Informatiker Prof. Folker Meyer vom Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin am Uniklinikum. „Wir arbeiten daran, mit Hilfe der KI aussagekräftige Vorhersagemodelle zu entwickeln, die auch Umweltfaktoren wie Wetter, Temperaturen und Niederschläge berücksichtigen.“ Denn regnet es kräftig, finden sich weniger Viren pro Liter im Abwasser – das muss aber nicht Entwarnung bedeuten.
Uni-Fusion als Erfolgsmotor
Die „Spurensuche im Abwasser“ ist ein schönes Beispiel für das erfolgreiche Zusammenwachsen der zuvor getrennten Universitäten Duisburg und Essen. Vor 20 Jahren wurde diese „Vernunftehe“ auf Geheiß der damaligen Landesregierung im Jahr 2003 trotz vieler Widerstände vollzogen (siehe Zweittext). Was aber durch die Fusion in Lehre und Forschung möglich wurde, zeigt – neben vielen anderen erfolgreichen Kooperationen – das Zentrum für Wasser- und Umweltforschung, das zeitgleich mit der Verschmelzung zur Universität Duisburg-Essen (UDE) vor 20 Jahren gegründet wurde.
„Wasserforschung gab es vorher nicht“, sagt Sures. „Am ZWU haben wir die Grenzen der Disziplinen und der Standorte überwunden, hier arbeiten viele Experten zusammen: Ingenieure, Chemiker, Mediziner, Biologen.“ Daraus entstand im Laufe der Zeit eine der aktuell fünf Profilschwerpunkte der „neuen“ Uni, der sich auch der Nachwuchsausbildung widmet. Das Zentrum konnte in der Folge zudem den Sonderforschungsbereich (SFB) „Resist“ für Spitzenforschung einwerben, der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zunächst bis 2024 mit rund 12,5 Millionen Euro gefördert wird.
In dem SFB „Resist“ werden die Auswirkungen von Stressoren und Umweltfaktoren auf Fließgewässer erforscht, ein zentrales Forschungsfeld ist dabei der Emscherumbau. „Was braucht es, damit aus einem ehemaligen Abwasserkanal wieder ein funktionstüchtiger Fluss wird“, skizziert Sures das Forschungsfeld. Die Ergebnisse seien eine Blaupause für den Umgang mit belasteten Gewässern auf der ganzen Welt. Zudem lassen sich über die Analyse von Mikroorganismen und Rückständen im Abwasser Rückschlüsse auf die Gesundheit der Bevölkerung ziehen.
„Dann hauen wir auf den roten Knopf“
Womit wir wieder bei der „Spurensuche im Abwasser“ wären: In der Pandemie sei man der Infektionsentwicklung stets hinterhergelaufen, sagt Ricarda Schmithausen. „Die KI kann uns sagen: Da kommt etwas auf uns zu. Dann hauen wir auf den roten Knopf und schlagen Alarm.“ Was sie meint: Es müsse ein direkter Draht zu Gesundheitsbehörden und Ärzten eingerichtet werden, damit sie frühzeitig informiert sind und Maßnahmen ergreifen können. Denn im Abwasser zeichnet sich die Entwicklung schon gut eine Woche vor der Krankheitswelle ab. „Es muss erst gar nicht zu einer Infektionskette kommen“, meint Schmithausen. Da die Analyse der Erreger im Abwasser nach Angaben der Experten auch auf Ebene einzelner Stadtteile möglich sei, könne man es zudem oft bei kleinräumigen Maßnahmen belassen.
„Wenn wir diese Instrumente bereits zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 zur Verfügung gehabt hätten, wären Schulschließungen und Lockdowns wohl nicht nötig gewesen“, ist KI-Experte Folker Meyer überzeugt. „Man hätte anordnen können: Setzt eine Woche lang die Masken auf – dann hätten wir die Infektionswelle sicher gebrochen.“
Die erste Uni-Fusion in Deutschland
Erstaunt beobachtete die akademische Welt, was da im Ruhrgebiet los war. „An der Ruhr fliegen die Fetzen vor der ersten Uni-Fusion in der Bundesrepublik“, titelte der Spiegel im Oktober 2002. Was war passiert?
Ministerpräsident Wolfgang Clement und seine Bildungsministerin Gabriele Behler (beide SPD) wollten die Hochschullandschaft in NRW grundsätzlich neu ordnen und schlagkräftiger machen - was Folgen vor allem für die Gesamthochschulen in Duisburg und Essen haben sollte. Die Argumente für die Brachialreform hatte ein Gutachten geliefert, das ein Expertenrat 1999 erstellt hatte. Das 16-köpfige Gremium hatte zur „Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit“ unter anderem vorgeschlagen, die Gesamthochschulen abzuschaffen und die Fachhochschulen auszubauen. Zugleich sollten die Unis enger zusammenarbeiten oder gar fusionieren.
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Damit waren insbesondere Duisburg und Essen gemeint. Auf sich allein gestellt, so konnte man das Gutachten lesen, seien die Standorte im Wettbewerb um Studierende, Geld und Forschungsmittel kaum überlebensfähig. Es war die bildungspolitische Pistole auf der Brust.
So kam es jedenfalls an in den Rektoraten. In der Folge ließ sich ein öffentlich ausgetragener Machtkampf zwischen fusionswilliger Landesregierung und widerstrebenden Hochschulen besichtigen, die sich auch untereinander bekämpften. Im Zuge eines auch vor Gerichten ausgetragenen Streits um Geld, Macht, Einfluss und Fächerverteilung wurde in Essen mit Ursula Boos-Nünning eine der wenigen Uni-Rektorinnen in Deutschland vom Senat gestürzt. Wie verhärtet die Fronten waren, zeigte der Stoßseufzer ihres Nachfolge-Rektors Karl-Heinz Jöckel ein Jahr vor der Zusammenlegung: „Alles, was die Fusion verhindert, wird von uns uneingeschränkt begrüßt.“
Doch die Landesregierung blieb unbeeindruckt bei ihrem Kurs, und im Januar 2003 wurde schließlich die Universität Duisburg-Essen gegründet. Im Herbst desselben Jahres übernahm der Grazer Jurist Lothar Zechlin als externer Hochschulmanager das Amt des Gründungsrektors und setzte bis 2008 die Verschmelzung der „Doppel-Uni“ erfolgreich auf die Schiene.