Düsseldorf. Immer mehr Kinder kommen völlig abgemagert in die Psychiatrie. Welche Rolle soziale Medien bei Essstörungen spielen, erklären Experten.

Der Schönheitswahn ist in den sozialen Medien allgegenwärtig. Bei Instagram & Co. rekeln sich superschlanke Models mit makelloser Haut und perfekten Proportionen. Daneben posieren durchtrainierte Fitness-Influencer mit Eiweiß-Shake in der Hand. „Der Konsum sozialer Medien stellt nachweislich einen Risikofaktor dafür dar, dass Essstörungen entstehen bzw. sich verfestigen“, hat NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) jüngst auf parlamentarische Anfrage der FDP im Landtag bilanziert.

Seit der Corona-Pandemie hat sich die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit einer Essstörung drastisch erhöht. So kamen 2021 laut Kinder- und Jugendreport der DAK-Krankenkasse 40 Prozent mehr Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren mit einer Essstörung ins Krankenhaus als 2019. Auch bei Schulkindern zwischen zehn und 14 Jahren gab es einen Anstieg von 21 Prozent.

Insgesamt wurden 2021 in NRW über 18.500 Patienten bis 19 Jahre ambulant behandelt und über 1500 stationär, so die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein und Westfalen Lippe. Laumann warnt: „Die Beschäftigung mit sozialen Medien kann die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper erhöhen.“

Viel mehr Kinder und Jugendliche wegen Essstörung behandelt seit Corona-Pandemie

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Mit bisweilen fatalen Folgen: Manche verweigern die Nahrungsaufnahme so lange, bis sie vollkommen abgemagert in die Psychiatrie kommen. „Zum Teil haben die Patientinnen und Patienten so ein erhebliches Untergewicht, dass sie in Lebensgefahr schweben. Manche haben tagelang nichts mehr gegessen. Vielleicht einen Apfel, aber das war es“, berichtet der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LVR-Klinik Bonn, Prof. Dr. Ulf Thiemann.

Er hat in der Corona-Pandemie eine „ganz erhebliche Zunahme“ von Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren erlebt, die in der Bonner Klinik wegen einer Essstörung behandelt werden mussten. 2021 seien dort fast doppelt so viele junge Patienten teil- oder vollstationär aufgenommen worden als 2019. Die meisten kamen wegen Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating, also wiederkehrenden Essanfällen.

Essstörung: Von vereinzelten Gedanken zur Kontrollsucht über den eigenen Körper

Eine Essstörung entwickele sich bei manchen innerhalb weniger Wochen, bei anderen präge sie sich über Monate hinweg aus. Zuerst verzichten viele Betroffene auf ungesunde Lebensmittel. Später reduzieren sie die Kalorienzufuhr insgesamt und lassen Mahlzeiten weg. „Wenn sie dann Erfolg beim Abnehmen haben, gibt ihnen das ein Gefühl von Kontrolle“, so der Kinder- und Jugendpsychiater.

Aus dieser Spirale kommen Betroffene oft nicht selbst heraus. Vor allem nicht, wenn sie aus ihrem Umfeld auch noch eine positive Bestätigung für ihr schädliches Verhalten bekommen. „Wenn Frauen abnehmen oder Männer Muskeln aufbauen, sagt man immer: Ach, wie schön!“, sagt Karola Ludwig von der Landesfachstelle für Essstörungen in NRW. „Aber bei Drogen sagt direkt jeder: Lass bloß die Finger davon.“

Betroffene leiden unter einem geringen Selbstwertgefühl

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Für die meisten Patienten ist es ein riesiger Schritt, aus der Familie gerissen und in einer Klinik behandelt zu werden, erzählt der Kinder- und Jugendpsychiater Thiemann. Bis sie wieder zurückkönnen, vergehen teilweise Monate. In der Pandemie fehlten Kindern und Jugendlichen vor allem soziale Kontakte. Oftmals brach die Tagesroutine weg. „Das hat sich psychisch stark auf die Kinder ausgewirkt“, so Thiemann.

Ursachen für die psychische Erkrankung gibt es viele. Betroffene leiden oft jahrelang unter einem geringen Selbstwertgefühl. Ob auch soziale Medien zu Essstörungen führen? „Es gibt keinen monokausalen Zusammenhang. Also keine Patientin sagt: Weil ich bestimmten Kanälen bei Instagram gefolgt bin, habe ich nichts mehr gegessen“, sagt Thiemann. Es sei ein Zusammenspiel aus psychologischen, familiären und sozialen, genetischen und soziokulturellen Faktoren. Bei Menschen, die unzufrieden mit ihrem Körper sind, könnten soziale Medien dieses Gefühl allerdings noch verstärken.

Was sagt die Wissenschaft über soziale Medien und Essstörungen?

Dass soziale Netzwerke das Wohlbefinden senken und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper steigern können, weiß auch Prof. Dr. Eva Wunderer. Die Psychologin und Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut hat 2019 die erste deutsche Studie über den Zusammenhang von Essstörungen und sozialen Medien vorgelegt.

Sie kommt zu dem Ergebnis, dass vor allem bildbasierte Medien wie Instagram einen hohen Einfluss haben. Wenn Kinder mit sich selbst unzufrieden sind, können die unzählig vielen perfekten Bilder von vermeintlich perfekten Körpern im schlimmsten Fall zu einer Essstörung führen.

„Das ist ein Teufelskreislauf“, erklärt Wunderer. Junge Menschen suchen nach Vorbildern und Orientierung. In den sozialen Medien verkörpern nicht nur bekannte Influencer ein inszeniertes Schönheitsideal, sondern auch private Nutzer. Um mitzuhalten, fangen viele Kinder und Jugendliche an, ihre Fotos zu bearbeiten. Wenn sie dafür in den sozialen Medien mit Likes belohnt werden, steigert das ihr Selbstwertgefühl. Gleichzeitig wächst die Angst, die Anerkennung wieder zu verlieren. Nach und nach überträgt sich diese virtuelle Veränderung dann ins reale Leben und die Kinder beginnen, ihr Essverhalten zu verändern.

„Eine der Hauptgefahr sind dabei die Algorithmen“, so Wunderer. Je mehr in sozialen Medien nach bestimmten Inhalten gesucht wird, desto häufiger werden sie angezeigt. Auch früher gab es schon retuschierte Fotos von Models in Zeitschriften. „Aber die mussten Jugendliche gezielt kaufen und so viel Auswahl gab es auch nicht.“ In den sozialen Medien sind solche Bilder aber kostenlos und allgegenwärtig.