Herne. Markus Gudel (36) war viele Jahre magersüchtig, stand kurz vor dem Tod. Doch der Herner hat die Krankheit bekämpft. So geht es ihm heute.
Es fing ganz schleichend an: Markus Gudel ist 26 Jahre alt, als er den Kraftsport für sich entdeckt. Schon bald geht er täglich ins Fitnessstudio. Bei der Tüte Chips abends auf dem Sofa denkt er sich irgendwann: „Wenn ich die jetzt esse, sind all meine Erfolge vom Sport wieder weg.“ Also lässt er die Tüte zu. Dass er eine Essstörung hat, realisiert Gudel lange nicht. „Ich dachte immer, Magersucht ist etwas, was nur Teenager-Mädchen haben. Aber doch nicht ich als erwachsener Mann.“
Der gebürtige Borkener studiert zu der Zeit Englisch und Spanisch auf Lehramt im Master in Münster, steht kurz vor seiner Masterarbeit. Dass er eigentlich gar nicht Lehrer werden möchte, spürt er zwar unterbewusst, sich das aber wirklich eingestehen – geschweige denn darüber reden – möchte er nicht. Mit seinen Gedanken flüchtet er sich in den Sport. Immer mehr, immer exzessiver. „Irgendwann bin ich an den Tagen, an denen ich nicht im Fitnessstudio war, joggen gegangen.“
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Das war 2012 – von da an nimmt das Unglück seinen Lauf. Als Erstes fällt seiner Hausärztin auf, dass der 1,92 Meter große Mann immer dünner wird. Er solle versuchen, mehr zu essen, rät die Ärztin ihm damals. Nach zwei Wochen dann ein Kontrolltermin, der zeigt: Statt zu- hat Gudel noch weiter abgenommen. „Ich habe es damals als Herausforderung angesehen, nicht mehr Gewicht zuzunehmen.“ Doch „ich“ ist in dem Fall eigentlich nicht richtig: „In der gesamten Zeit war ich von der Essstörung bestimmt, das war nicht mehr ich.“ Er zieht den Vergleich zu einem Puppenspieler: Er die Puppe, die Essstörung der Spieler, der ihn in der Hand hat.
Magersucht: Herner nimmt in Kliniken an Gewicht zu
Es folgt eine Odyssee: Von einer Klinik kommt Gudel in die nächste. Meistens wird es während der Klinikaufenthalte besser, er nimmt zu. Doch kaum ist er wieder draußen, hat die Essstörung ihn wieder voll im Griff. „Es gab Tage, da habe ich 16 Stunden lang nur gestanden und mich nicht ein Mal hingesetzt“, sagt er. Hauptsache: möglichst viele Kalorien verbrennen. Für Sport ist er damals schon längst zu schwach.
Sein gesamtes Umfeld leidet darunter. „Ich hatte für nichts mehr Kraft.“ Nach vielen Klinikaufenthalten, einer Magensonde und einem kurzen Aufenthalt in der geschlossenen Klinik scheint es nach einem Aufenthalt in der LWL-Klinik in Bochum besser zu werden. Er zieht zu einer Freundin nach Berlin. „Als ich die bunten Lichter der großen Stadt gesehen habe, dachte ich: Hier schaffe ich den Neuanfang.“ Doch auch das gelingt nicht. Seinen Job beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss der junge Mann beenden, sein Gewicht geht immer weiter zurück. Er verliert Freunde, erträgt es nicht, laute Musik zu hören. „Ich wollte nie sterben, aber ich wollte von den Qualen erlöst werden.“
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Für viele Kliniken ist sein Body Mass Index (BMI), anhand dessen erkannt wird, ob jemand unter- oder übergewichtig ist, zu niedrig. Das heißt: Erst ab einem bestimmten Wert können psychiatrische Klinikenmit Essstörungspatienten arbeiten. Davor müsse erst dafür gesorgt werden, dass Gewicht zugenommen werde, erklärt er. „Da habe ich mich oft hilflos gefühlt. Keiner wollte und konnte mir helfen.“
Seinen Tiefpunkt erlebt der heute 36-Jährige im Jahr 2015. Er kommt mit dem niedrigsten Gewicht, das er je hatte, ins Krankenhaus. „Mit so einem Gewicht ist man eigentlich nicht lebensfähig.“ Der 1,92-Meter-Mann kann nicht mehr laufen, ist völlig immobil und liegt im Bett – in seinen eigenen Fäkalien. „Es kam einfach niemand, um mich sauber zu machen.“
Herner bekämpft Essstörung erfolgreich
In dieser Zeit wird er krank, bekommt den Krankenhauskeim. „Die Ärzte haben meine Eltern angerufen und gesagt, dass sie sich von mir verabschieden sollen, ich würde die Nacht nicht überstehen.“ Aber Gudel überlebt und kämpft weiter.
2017 kommt er dann durch Zufall nach Herne, nachdem er sich entschieden hat, sich auf ein betreutes Wohnen einzulassen. Er zieht in eine Wohngemeinschaft von Via Annie, einem Kinderheim in Herne, das auch für Erwachsene betreute Wohnangebote schafft. „Das erste halbe Jahr war schwierig.“ Noch immer findet er Tricks, um weiter abzunehmen, tauscht beispielsweise Lebensmittel aus. „Man wird sehr kreativ.“ Nachdem er auch in der Wohngemeinschaft weiter Gewicht verliert, bekommt er von seinem Oecotrophologen – mit dem er sich gut versteht – Ärger. „Das hat mir die Augen geöffnet, da war ich so wütend auf diese Krankheit“, sagt er. „Ich wollte ja so dringend, dass mir endlich jemand hilft.“
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Also arbeitet er mit, gibt all sein verstecktes Essen aus seinem Zimmer ab – und nimmt endlich zu. Bald darf er in eine eigene Wohnung des betreuten Wohnens ziehen. Inzwischen wohnt er ganz alleine in einer Wohnung in Herne-Mitte, ist in keiner psychischen Behandlung mehr. Essen macht ihm wieder Spaß. „Ich kann mein Leben jetzt endlich wieder genießen.“ Er habe so viel in der Zeit mit der Essstörung verpasst. Die Geburt seiner Nichte, Familienfeiern und und und. „Aber das holen wir jetzt alles nach.“
Sein BMI ist mittlerweile wieder im Normalbereich, Gudel macht zwar noch immer gerne Sport, aber alles im Rahmen. „Ich mache das gerne nach der Arbeit, um den Kopf frei zu kriegen.“ Die Idee, Lehrer werden zu wollen, hat der Herner nämlich inzwischen aufgegeben. Stattdessen arbeitet er bei dem Bildungsverein Chancenwerk in Castrop-Rauxel. „Dort fühle ich mich super wohl.“