Berlin. Der Westen wankt, die Bedrohungen nehmen zu. Deutschland darf sich nach der Wahl keine Pause auf der internationalen Bühne leisten.

Deutschland hat gewählt, aber Europa wartet nicht. Als Friedrich Merz in Berlin seinen Wahlsieg feierte, gratulierte Emmanuel Macron telefonisch vom Flugzeug aus – auf dem Weg nach Washington, zum Treffen mit Donald Trump. Der US-Präsident empfing den Franzosen zwischen einer Visite des polnischen Präsidenten und des britischen Premiers im Weißen Haus. Währenddessen sind andere EU-Regierungschefs und die EU-Spitzen am Montag zu einem Ukraine-Gipfel nach Kiew gereist. Ohne den Bundeskanzler.

Die deutsche Politik sortiert sich, anderswo aber ist das Ringen um Einfluss und Interessen in vollem Gang. Fatal, dass ausgerechnet jetzt, da die westliche Allianz wankt und die Weichen für die Zukunft Europas neu gestellt werden, hierzulande nur eine begrenzt handlungsfähige Übergangsregierung im Amt ist.

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Christian Kerl, Korrespondent © FMG | FMG

Berlin darf sich diese Blöße nicht lange geben – aus Eigeninteresse, aber auch, weil die Europäische Union auf eine aktive Rolle seines größten Mitgliedstaates angewiesen ist. Es wird stark auch auf den nächsten Kanzler ankommen, ob sich Europa behaupten kann: gegen die Bedrohung seiner Sicherheit, gegen Spaltungsversuche aus Moskau und Washington, gegen seine Feinde im Innern. Merz steht bereit, so viel ist klar: Er erklärt die Stärkung Europas zur obersten Priorität, will in der EU Führung übernehmen, abgestimmt mit Frankreich und Polen. Die Erwartungen unserer Nachbarn an den Wahlsieger sind groß.

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Allerdings wird Merz bald zu spüren bekommen, dass jenseits der Freundschaftsbekundungen nationaler Egoismus und Rücksichtslosigkeit unter den EU-Staaten zugenommen haben. Olaf Scholz kann ein Lied davon singen. Merz hat aber die Chance des Neuanfangs in den Beziehungen, er hat einen Plan. Und er kann die Macht der in der EU dominierenden Christdemokraten nutzen.

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Meine schwerste Entscheidung

Doch die Krisenlage ist dramatisch. Daher sollte der amtierende Kanzler über seinen Schatten springen: Er sollte Merz, dem Regierungserfahrung fehlt, den Weg ebnen und sich für den Übergang ab sofort sehr eng mit dem Nachfolger abstimmen, damit in Brüssel, Paris oder Washington klar ist, wo Deutschland in zentralen Fragen künftig steht. Vor allem aber müssen die Spitzen von Union und SPD Tempo machen bei der Regierungsbildung: Deutschland kann sich keine lange Pause auf der internationalen Bühne leisten. Die Welt wartet nicht.