Düsseldorf.. Kinder beißen und schlagen, Eltern beleidigen Lehrer: Der Verband VBE warnt vor einer krassen Entwicklung, vor allem in NRW.
Seit 2018 fragt der Verband Bildung und Erziehung (VBE) regelmäßig Schulleitungen nach Gewalt in der Schule. In der neuesten, vom Forschungsinstitut Forsa im vergangenen Jahr durchgeführten Umfrage, wird deutlicher denn je, dass NRW ein noch größeres Gewaltproblem in Schulen haben dürfte als der Rest der Republik.
„In Nordrhein-Westfalen treten Beschimpfungen und sogar körperliche Übergriffe an Schulen häufiger auf als im bundesweiten Durchschnitt“, erklärt die Gewerkschaft. 73 Prozent der Schulleitungen in NRW berichteten laut der Studie, dass es in den vergangenen fünf Jahren zu Fällen gekommen sei, in denen Lehrkräfte direkt beschimpft, bedroht, beleidigt, gemobbt oder belästigt worden seien. Bundesweit liege dieser Wert bei 65 Prozent. Noch gravierender sei die Diskrepanz bei körperlichen Übergriffen, also zum Beispiel Schläge, Tritte und Bisse. 43 Prozent der Schulen in NRW hätten solche Vorfälle gemeldet, während der Bundesdurchschnitt bei 35 Prozent liege. Die vorherige Umfrage des VBE zu Gewalt an Schulen aus dem Jahr 2022 zeigte ein vergleichbares Bild. Einiges deutet aber auf ein zunehmendes Problem hin.
Die Leiterin einer Grundschule in NRW beschreibt auf Nachfrage dieser Redaktion, was diese Entwicklung im Schulalltag bedeutet. Sie möchte anonym bleiben. Sie betont, dass Gewalt nicht nur ein Thema in weiterführenden Schulen sei, sondern auch im Primarbereich, und dass die Probleme oft sogar schon in der Kita begönnen.
Schulleiterin: „Gewalt nimmt seit 30 Jahren zu, nach Corona sogar sprunghaft“
„Die Gewalt in der Schule hat in den vergangenen 30 Jahren schleichend zugenommen, nach der Corona-Pandemie sogar sprunghaft“, sagte sie gegenüber dieser Redaktion. Die Kinder seien verbal und körperlich heute schneller gewaltbereit und oft nicht in der Lage, sich an Regeln zu halten. In den Grundschulen gebe es verbale und körperliche Gewalt. „Wir hören sehr verletzende Schimpfwörter, es wird mitunter getreten, geschlagen, gekratzt und gebissen“, so die erfahrene Pädagogin.
„Gewalt ist immer ein Hilfeschrei“
Sie nennt zwei aktuelle Beispiele aus ihrem Schulalltag: „Vor ein paar Tagen wurde ein Kind von einem anderen Kind in eine Hand gebissen, weil beide dasselbe Spielzeug haben wollten. Danach habe ich mit den Eltern des Kindes, das gebissen hat, ein zielführendes Gespräch geführt, damit sich so etwas nicht wiederholt. Vor zwei Wochen hat ein Kind einem anderen Kind etwas erzählt, was dieses Kind auch gern erlebt hätte. Aus Traurigkeit, Frust oder Neid fing das Kind an, um sich zu treten, um die Wut an allen anderen auszulassen, die zusammen im Stuhlkreis saßen. Dieses Kind benötigt fachkundige Unterstützung, damit es lernt, mit frustrierenden Erlebnissen anders umzugehen. Das kann das Lehrpersonal in der Schule nicht leisten.“
Früher hätten die Pädagoginnen und Pädagogen an dieser Grundschule Gewalt fast ausschließlich unter den Kindern festgestellt, nun treffe sie zum Teil auch die Lehrkräfte.
„Gewalt ist immer ein Hilfeschrei und ein Hinweis auf Überforderung“, betont die Schulleiterin. „Die Kinder nehmen sich nicht von vornherein vor, gewalttätig zu werden, das geschieht in der Regel im Affekt aus einer eskalierenden Situation heraus.“
„Wir benötigen Extra-Personal, um diese Probleme auffangen zu können“
NRW müsse vieles in die Wege leiten, um diesen Trend zu mehr Gewalt zu stoppen. „Wir benötigen Extra-Personal an der Schule, um diese Probleme auffangen zu können. Das muss keine permanente Doppelbesetzung sein, aber es wäre gut, wenn immer ein Schulsozialarbeiter oder eine Schulsozialarbeiterin für den Fall der Fälle da wäre. Denn einer muss sich um die Streitenden kümmern, ein anderer um den Rest der Klasse und vielleicht muss sich sogar jemand um den Lehrer kümmern, wenn der Opfer von Gewalt geworden ist“, sagt die Rektorin. Man benötige also insgesamt mehr Menschen im Schulbetrieb, die Zeit hätten für die Kinder, und die Klassen müssten kleiner sein.
Die Familien benötigen ebenfalls mehr Unterstützung durch Beratungsstellen, Therapeuten, Jugendämter, denn die Überforderung betreffe ganze Familien. „Die Probleme beginnen oft schon in der Kita. Im gesamten frühkindlichen Bereich müsste es viel mehr Förderung geben“, warnt die Schulleiterin.
Die VBE-Landesvorsitzende Anne Deimel kommt mit Blick auf die aktuelle Schule zu genau diesen Schlussfolgerungen: „Eine der wichtigsten Voraussetzungen, um Gewalt angemessen begegnen zu können, ist eine ausreichende Personalausstattung, damit verbunden kleinere Lerngruppen und die konkrete Möglichkeit, mit den Schülerinnen und Schülern bei Bedarf individuelle Förderprogramme durchzuführen.“ 82 Prozent der befragten Schulleitungen in NRW stimmten dem zu.
Umfrage unter Schulleitungen
Im Rahmen der aktuellen Untersuchung von Gewalt in Schulen wurden vom Institut Forsa insgesamt 1.311 Schulleitungen in der Bundesrepublik Deutschland (darunter 253 in Nordrhein-Westfalen) befragt. Die Erhebung wurde vom 11. September bis 9. Oktober 2024 durchgeführt.
Die Schule in NRW benötigten ein „starkes Rückgrat“. NRW bleibe bei der Gewaltprävention in Schulen nicht untätig, lobt Deimel. Für die „Extremismusprävention“ sollen in NRW 54 Stellen geschaffen werden, auch das Programm „Mind Out“ sei wichtig. „Mind Out“ soll die sozialen und emotionalen Kompetenzen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen stärken.
VBE-Landeschefin Deimel: „Jede Tat ist eine zuviel“
Die Forsa-Umfrage im Auftrag des VBE zeigt, dass körperliche Gewalt meist von Schülerinnen und Schülern ausgehe (97 Prozent). Psychische Gewalt und Cybermobbing würden hingegen häufig auch von Eltern verübt. Besonders direkte psychische Gewalt treffe Lehrkräfte überwiegend durch Eltern (82 Prozent), aber auch durch Schülerinnen und Schüler (70 Prozent). Anne Deimel sagt dazu: „Jede Tat ist eine zu viel. Gewalt an Schulen ist ein komplexes Thema, das einfache Lösungen ausschließt. Kommt es zu Gewalt, darf es hierfür keine Toleranz geben, egal durch wen die Gewalt ausgeübt wird.“ Die Schule ist ein „Raum des Rechts“, der geschützt werden müsse.
Die Grundschulleiterin, die uns von ihren Erfahrungen berichtete, sagte, dass an ihrer Schule noch keine Lehrkräfte von Eltern geschlagen worden seien. Ab und zu kommt es aber durch Eltern zu verbaler Gewalt.
Mehr Straftaten durch Kinder und Jugendliche
Die Gewalt an Schulen scheint Teil einer allgemeinen besorgniserregenden Entwicklung zu sein. Im Frühjahr 2024 hatte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) die Kriminalstatistik vorgestellt und unter anderem darauf hingewiesen, dass Immer mehr Kinder und Jugendliche Straftaten verübten. In rund 22.500 Fällen wurden demnach im Jahr 2023 tatverdächtige Kinder ermittelt (plus 7,4 Prozent), in rund 48.000 Fällen tatverdächtige Jugendliche (plus 6,1 Prozent). Reul sagte damals: „Corona spielt da mit rein. Zwei Jahre soziales Miteinander sind ausgeblieben. Da fehlt was.“
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