Düsseldorf. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat Beschäftigte an Förderschulen nach Gewalt gefragt. Die Ergebnisse sind brisant.
Erste Umfrage an Förderschulen
- Die Gewerkschaft GEW in NRW hat erstmals Beschäftigte in den rund 500 Förderschulen im Land nach ihrer Gewalterfahrung gefragt. 3000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben sich beteiligt.
- Etwa jeder zweite Befragte gab an, bei der Arbeit körperliche oder seelische Verletzungen erlitten zu haben.
- Als Hauptproblem nennt die GEW den Lehrkräftemangel. Zu wenig Personal bedeute zu wenig Zeit für die Schulkinder und kaum Gelegenheit zur Gewaltprävention.
Viele Lehrkräfte an Förderschulen in NRW sind täglich Opfer von Übergriffen ihrer Schülerinnen und Schüler. Das geht aus einer Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hervor. Sie hat erstmals Beschäftigte an Förderschulen nach ihren Gewalterfahrungen gefragt.
„Die Ergebnisse sind besorgniserregend“, sagte GEW-Landeschefin Ayla Celik dieser Redaktion. Demnach erfahren zum Beispiel 94 Prozent der Befragten, die in Schulen mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ arbeiten, körperliche Gewalt wie Schläge und Tritte. 60 Prozent leiden laut der Umfrage mehrmals im Monat darunter, zehn Prozent mehrmals am Tag.
GEW-Umfrage: Jeder zweite Befragte hat körperliche oder seelische Verletzungen erlitten
An Förderschulen mit dem Schwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ leiden laut GEW 93 Prozent der Befragten unter verbaler und fast 78 Prozent unter psychischer Gewalt, zum Beispiel unter Drohungen und Beleidigungen. An der Umfrage zu Gewalterfahrungen in den vergangenen fünf Jahren hatten sich im Jahr 2023 insgesamt rund 3000 Lehrkräfte, Schulleitungen und pädagogische Fachkräfte beteiligt. Etwa jeder Zweite gab an, bei der Arbeit körperliche oder seelische Verletzungen erlitten zu haben.
„Lehrkräfte arbeiten an vielen Förderschulen mit dem Risiko angegriffen zu werden“, sagte Beate Damm, Sonderpädagogin an einer Förderschule in Essen. In manchen dieser Schulen würden so genannte „Systemsprenger“ unterrichtet. „Weil diese Kinder nicht in Regelschulen unterrichtet werden können, gibt es sie vermehrt in Förderschulen, und sie müssen intensiv sonderpädagogisch gefördert werden“, so Damm.
Innenminister: Zahl der Gewalttaten an Schulen in NRW deutlich gestiegen
In den Ergebnissen der Umfrage spiegelt sich nach Einschätzung von Ayla Celik ein allgemeiner Trend hin zu mehr Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst, gerade auch an Schulen. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte zuletzt den Innenausschuss des Landtags darüber informiert, dass die Zahl der Gewalttaten an den Schulen in NRW stark angestiegen sei. Demnach gab es dort im Jahr 2022 mehr als 5400 Fälle von Gewalt -- 55 Prozent mehr als noch 2019. Für das Jahr 2023 liegen noch keine Zahlen vor, das Ministerium geht jedoch von einer Steigerung um weitere zehn Prozent aus. Reul warnt davor, über die Ursachen zu spekulieren. Die müssten erst noch genauer untersucht werden. Als eine mögliche Ursache nannte er einen Nachholeffekt nach der Corona-Pandemie.
Die GEW erkennt als Hauptgrund für die vielen Gewalttaten einen „besonders ausgeprägten“ Lehrkräftemangel an Förderschulen. Es sei Aufgabe der Landesregierung, diese Beschäftigten besser zu schützen. Die Gewerkschaft fordert unter anderem ein vereinfachtes Meldeverfahren für Gewalttaten, einen Schutzplan für Beschäftigte, mehr Anti-Aggressionstrainings, mehr Weiterbildung für Schulleitungen sowie mehr multiprofessionelle Teams.
In NRW gibt es laut GEW rund 500 Förderschulen mit ca. 16.500 Lehrkräften. Hier beschreibt eine Förderschul-Lehrerin ihren zum Teil belastenden Berufsalltag.
Lehrerin: „Ich werde häufig angeschrien, geschlagen, jemand tritt vor mein Knie oder Schienbein.“
Gewalt an Schulen und Gewalt durch Kinder und Jugendliche sind schon seit Jahren viel diskutierte Themen in NRW, aber bisher hat niemand den Blick gezielt auf die Förderschulen im Land gerichtet. Das hat sich jetzt geändert. Die Gewerkschaft GEW hat erstmals Beschäftigte an Förderschulen nach Gewalterfahrungen im Dienst gefragt und rund 3000 Rückmeldungen bekommen.
Beate Damm ist mit 31 Jahren im Schuldienst eine erfahrene Förderschullehrerin und außerdem Personalrätin für Lehrkräfte an Förder- und Klinikschulen. Die Essenerin sagt, dass sie fast alle Formen von Gewalt, die in der Umfrage genannt werden, schon erlebt habe.
„Ich werde häufig angeschrien, geschlagen, jemand tritt vor mein Knie oder Schienbein. Mir ist auch schon ein spitzer Bleistift in den Unterarm gestochen worden“, sagte sie dieser Redaktion. Lehrkräfte würden auch mit Gegenständen wie Stühlen beworfen. An Förderschulen für emotionale und soziale Entwicklung und für geistige Entwicklung sei Gewalt häufiger als in anderen Förderschwerpunkten.
„Lehrkräfte, die dies lange erleben, leiden oft unter psychischen Beschwerden“, warnt Damm. „Wir in der GEW werden häufig von Förderschul-Beschäftigten angesprochen, die ratlos sind wegen der vielen Übergriffe im Schulalltag. Sie fragen, ob sie es ertragen müssen, getreten, gebissen und geschlagen zu werden.“
Gewalt an Förderschulen: Muss das Land die Lehrkräfte besser schützen?
Gewalt an Förderschulen ist zwar kein Tabuthema, aber eines, das mit Sorgfalt aufgegriffen werden müsse, betont die GEW. Die Übergriffe hätten vielfältige Ursachen und seien zum Teil durch die Handicaps der Kinder bedingt, zum Beispiel durch eine geistige Behinderung. Dennoch dürfe es nicht heißen, Beschäftigte an Förderschulen müssten Gewalt ertragen.
Am Ende sei das Land verantwortlich für den Gesundheitsschutz seiner Lehrkräfte. Die Schulleitungen verwalteten oft nur den Personalmangel und hätten Mühe, die Lehrkräfte zu schützen. „Es gibt an Förderschulen nicht einmal feste Stellen für Schulsozialarbeit. Wenn eine Schule eine Fachkraft für Schulsozialarbeit einstellen möchte, dann muss sie auf eine Lehrkräftestelle verzichten“, sagt Beate Damm.
Laut GEW-Landeschefin Ayla Celik zeichnet sich ein „erster Erfolg“ ab: Auf den speziellen Schulbereich zugeschnittene Deeskalations- und Sicherheitstrainings sollen den Beschäftigten baldmöglichst kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Die Gewerkschaft begrüßt dies, fordert aber weitere Maßnahmen wie ein vereinfachtes Meldeverfahren bei Gewalt gegen Beschäftigte, einen Schutzplan für Betroffene sowie die Pflicht, nach Gewalttaten eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen.
Eine andere Gewerkschaft, der Verband Bildung und Erziehung (VBE), hat in der Vergangenheit mehrfach mit Umfragen zu Gewalt an Schulen Aufsehen erregt. Er hat Schulleitungen nach ihren Erfahrungen gefragt. Auch der VBE appelliert an die Fürsorgepflicht des Dienstherrn. (mit dpa)
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