Berlin. Statt Zukunft mit Inhalten zu gestalten, übt sich die Partei in Trauma-Arbeit. Der neue Bundestag wird eine gespaltene Partei erben.

Mannheim, November 1995. Seine leeren Augen starren über die einsamen Stuhlreihen hinweg auf die Bühne, wo er soeben politisch hingerichtet worden war. Unter dem Gejohle hunderter Genossen und Genossinnen hatte Oskar Lafontaine sich und den Parteitag in ekstatische Selbstbesoffenheit geredet. Am Ende war er SPD-Chef. Und der weggeputschte Rudolf Scharping hockt allein im Saal, tiefgefroren in der Eiseskälte seiner Partei.   

Im Jahr zuvor hatte Scharping die Bundestagswahl gegen Helmut Kohl zwar verloren, aber sportliche 36 Prozent geholt. Ach ja, eigentlich wollte Gerhard Schröder 1994 Kanzlerkandidat werden. Aber das hatte die Partei trickreich verhindert. Als Schröder 1998 Kanzler war, schmiss nach wenigen Monaten sein Finanzminister Lafontaine hin und machte den Kampf gegen die SPD zu seinem Lebensinhalt, bis heute, in Gestalt seiner Partnerin Sahra Wagenknecht. Auch Schröder wirkt bis heute nach, mit seiner Agenda 2010. Und die SPD tut, was sie am besten kann: verletzt zurückblicken, mit schlechtem Gewissen.  

Scholz zurück in Berlin: Was wird nun aus der K-Frage?

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    Willkommen bei der Partei für politische Erregung, die mitten in der Polykrise eher einem Urschreiseminar gleicht als einer verantwortungsbewussten europäischen Machtzentrale. Scheinbar naturgesetzlich kommt alle paar Jahre diese toxische Phase, wenn die in einer gewissen Schafsruhe aufgestauten Emotionen urplötzlich in kollektive Panik umschlagen. Dann wird die SPD zur Dramaqueen der deutschen Politik, die heulend, brüllend, zickend alle Gefühlszustände durchspielt, alle, außer Besonnenheit. Und selbst die Alten heizen noch kräftig mit ein wie Altmeister Müntefering, der lustvoll im Ungefähren orakelt.  

    Mögliche Bundestagswahl 2025: SPD eröffnet zur Unzeit eine offene Schlacht in den eigenen Reihen

    Ob Scharping oder Schröder, Schulz oder Steinbrück, Gabriel und jetzt eben Scholz – wenn sozialdemokratische Gefühle wallen, geht es den Anführern an den Kragen. Der amtierende Kanzler erlebt derzeit, was auch seinen Vorgängern Schmidt (1982) und Schröder (2005) widerfahren ist: Kaum ist wirklich Geschlossenheit gefragt, verweigern die Genossen die Gefolgschaft. Heiße Herzen statt pragmatischer Machtschläue. Bei der Union ist es meistens andersherum. 

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    Befeuert von, bekanntlich volatilen, Umfragezahlen lassen sich die Genossen von einer Pistorius-Begeisterung anstecken, obwohl es sich eher um eine Scholz-Verdrossenheit handelt. Es ist die Stunde der Tuschler und Meuchler, die weniger die stolze Tradition der ältesten deutschen Partei im Sinn haben als das eigene Mandat. So wird ein ohnehin schwer angeschlagener Kanzler weiter beschädigt, ohne dass sich die Gesamtsituation zwingend bessert. Der Alte oder Neue wird eine gespaltene Partei erben.  

    1982 Helmut Schmidt gratuliert Helmut Kohl
    Der gestürzte Bundeskanzler Helmut Schmidt (r, SPD) beglückwünscht am 1.10.1982 seinen Nachfolger Helmut Kohl (M, CDU) zu dessen Wahl. © picture-alliance / dpa/dpaweb | Jörg_Schmitt

    Während die grüne Konkurrenz zum Wahlkampf im Februar 2025 hin eine überraschend erwachsene Geschlossenheit zelebriert, eröffnet die SPD zur Unzeit eine offene Schlacht in den eigenen Reihen. Die Parteiführung hat die Kontrolle über die K-Debatte verloren, über Landesverbände und Fraktion. Politik braucht Mehrheiten? Egal. Für einen ausgeglichenen Emotionshaushalt kann man das Kanzleramt ruhig wegschenken. 

    Kanzlerfrage spaltet die Partei: Scholz als Trantüte versus Boris Pistorius die Wundertüte

    Das Kernproblem ist immer dasselbe: das Selbstverständnis der SPD als Opfer von Umständen und Vergangenheit. Statt Zukunft mit Inhalten zu gestalten, übt sich die Partei in Trauma-Arbeit. So lautete der wichtigste Auftrag 2021 an Kanzler Scholz: Die Wunde Hartz IV muss weg, obgleich sie sechzehn Jahre nach Schröders Agenda 2010 halbwegs verheilt war. Der Hartz-Komplex hatte seine Schwächen, war aber ein gelerntes und leidlich funktionierendes Provisorium. Das neue Bürgergeld löste in wirtschaftlich schweren Zeiten kaum Probleme, brachte aber unnötig viele neue. Das alte SPD-Spiel: Gesinnungsethik tritt gegen Verantwortungsethik an, um durch Eigentor zu verlieren. 

    Auch in der K-Frage bleibt die Partei ihrer emotionalen Kurzsichtigkeit treu: Das Alte muss weg, auch wenn völlig unklar ist, ob der ersehnte Neuanfang nicht eher ein romantisch aufgeladenes Phantasma ist. Frank Stauss, der Wahlkämpfe für Scharping und Schröder, für Wowereit und Dreyer organisiert hat, weist nüchtern darauf hin, dass es keinen Pistorius-Automatismus gebe. Die Umfragen haben schon viele angeführt. Die wenigsten sind Kanzler geworden. Schöne Grüße von Kamala Harris.  

    Boris Pistorius und Olaf Scholz
    Die Kanzlerfrage in der SPD: Mag Scholz die Trantüte sein, so ist Boris Pistorius die Wundertüte. © picture alliance / dts-Agentur | -

    Im Funke-Wahlpodcast „61 Millionen“ vergleicht Wahlwerber Stauss nüchtern die Kandidaten. Scholz sei in allen Themen sattelfest und habe Wahlkampfresilienz nachgewiesen. Schlechte Zahlen? Hatte Gerhard Schröder 2005 auch und kämpfte sich doch bis auf ein Prozentpünktchen an Angela Merkel heran – obgleich seine Partei kein großes Engagement zeigte. Pistorius bringt brillante Popularitätswerte mit, womöglich aber auch deswegen, weil „ihn die Deutschen noch gar nicht richtig kennen“, so Stauss. Der ehemaliger OB von Osnabrück hat sich zwar als niedersächsischer Innenminister und Bundesverteidigungsminister einen guten Namen gemacht, aber den hatten die NRW-Ministerpräsidenten Steinbrück und Laschet auch, um dann zu zerbröseln. „Ob Pistorius einen beinharten Wahlkampf fehlerfrei durchsteht – wir wissen es einfach nicht“, so Stauss. Bleibt die Frage, wer das erwartbare Medley der Wahlkampfschlager überzeugender vorträgt, etwa den Evergreen „Soziale Wärme gegen kapitalistische Kälte“.  

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    Mag Scholz die Trantüte sein, so ist Boris Pistorius die Wundertüte. Mit Glück ist der Inhalt richtig gut, aber oft auch enttäuschend. Boris Pistorius könnte die affektreiche Debatte mit einem einzigen Satz beenden, der lautet: „Ich stehe hinter Olaf.“ Sagt er aber nicht. Es darf gern noch ein wenig Drama mehr sein. 

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    Jochen Gaugele: „Pistorius? Nur eine Projektionsfläche“

    Das Scholz-Update - der Kanzler im Fokus