Berlin. Inhaftierte „splitternackt“ eingesperrt und geschlagen? Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft. Und der Justizminister steht unter Druck.

Im Keller des mächtigen Gebäudekomplexes, einige Kilometer nordwestlich von Augsburg, gibt es mehrere Zellen. Sie nennen sich „besonders gesicherte Hafträume“, im Behördendeutsch kurz „BgH“, hier in der Justizvollzugsanstalt Gablingen. Gefangene kommen „nur als letztes Mittel“ in diese Zelle. Wenn sie gewalttätig sind, gegen sich, oder gegen andere. So sehen es Dienstvorschriften vor.

Im „BgH“ sind die Wände oft aus Fliesen oder Beton, es gibt keine Schränke, keine Tische – nichts, was verletzen kann. Der Raum ist videoüberwacht. So schildert es jemand, der den Haftraum in Gablingen kennt. Matratze und Kleidung der Inhaftierten sind aus reißfestem Material, damit die Menschen keine Schlingen basteln können. Die Toilette ist nur ein Loch im Boden.

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    Was in dieser isolierten Zelle in der JVA Gablingen passiert sein soll, sorgt in Bayern seit Tagen für Schlagzeilen. Justizminister Georg Eisenreich (CSU) spricht von „gravierenden Vorwürfen“, es geht um Misshandlungen und gewalttätige Übergriffe. Nicht durch die Inhaftierten, sondern durch Bedienstete gegen einzelne Gefangene. Am Ende steht der Vorwurf der Folter im Raum. Die Leitung der JVA hat das Ministerium derweil vom Dienst freigestellt.

    Im Gespräch mit unserer Redaktion erzählt Alxandra Gutmeyr davon, dass ein Gefangener „splitterfasernackt“ und im Dunkeln in der Isolierzelle eingesperrt worden sei. Er habe keine warmen Mahlzeiten bekommen und keine Informationen darüber, wie lange er im „besonders gesicherten Haftraum“ eingesperrt bleibe. Gutmeyr ist Anwältin. Das, was sie erzählt, habe einer ihrer Mandanten so geschildert. Ein weiterer habe von Schlägen und Tritten durch die Bediensteten berichtet.

    „Zu 80 Prozent hatten die Häftlinge keine Matratze und waren komplett nackt“

    Der Bayerische Rundfunk hat direkt mit einem früheren Inhaftierten gesprochen. Er sagt demnach: „Von überall kam Personal angerannt und sie haben auf mich eingeprügelt.“ Gutmeyr hat Anzeige erstattet. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft Augsburg gegen 16 Bedienstete. Vier Staatsanwältinnen und Staatsanwälte befassen sich damit, die Vorwürfe zu überprüfen. Im Raum steht nun sogar der Vorwurf, dass Mitarbeitende der Anstalt Beweismittel vernichtet haben könnten. Die Justizvollzugsanstalt verweist auf Nachfrage unserer Redaktion an die Staatsanwaltschaft und das Justizministerium.

    Ausgelöst wurden die Ermittlungen nicht nur durch die Anzeigen von Anwältin Gutmeyr, sondern durch eine Beschwerde der früheren Anstaltsärztin Katharina Baur. Auch sie berichtet dem Bayerischen Rundfunk und sagt: „Zu 80 Prozent hatten die Häftlinge keine Matratze und waren komplett nackt.“ Baur erzählt zudem, dass sie von Inhaftierten wisse, die zwei bis drei Wochen dort eingesperrt gewesen seien. In der Regel seien drei Tage die Grenze.

    JVA Gablingen bei Augsburg: Was hat sich hinter den Mauern abgespielt?
    JVA Gablingen bei Augsburg: Was hat sich hinter den Mauern abgespielt? © dpa | Karl-Josef Hildenbrand

    Vor vier Jahren wurden Haftanstalten unter die Lupe genommen

    Es sind Beschreibungen, die eher an Gefängnisse in Ländern erinnern, in denen Diktatoren herrschen. „Guantanamo Gablingen“ titelt die „Augsburger Allgemeine“. Und so wirft der Fall auch die Frage auf, ob und wie sehr die Situation in deutschen Gefängnissen gegen die Menschenwürde verstößt. Denn das, was hinter Gittern passiert, bleibt für die Öffentlichkeit meist eine große Blackbox. Auch in Deutschland. Die mehr als 40.000 Gefangenen haben kaum eine Lobby.

    Es ist knapp vier Jahre her, dass Delegierte des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe deutsche Einrichtungen besuchten, eine Art europäisches Anti-Folter-Komitee. Sie sahen sich Haftanstalten an, psychiatrische Kliniken, Polizeistationen. Ende 2022 veröffentlichten sie den Bericht, darin hielten sie zu zwei Gefängnissen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein fest, dass mehrere Gefangene „über längere Zeit“ von allen anderen „abgesondert“ worden seien. Auch hier in „besonders gesicherten Bereichen“ der Anstalten. Sie hätten unter schweren und anhaltenden psychischen Störungen gelitten und seien „nicht adäquat versorgt“ worden. Für die Delegation des Europarats war das „besonders besorgniserregend“.

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    Auch Deutschland hat eine „Nationale Stelle zur Verhütung von Folter“ mit Sitz in Wiesbaden

    Gefängnisse und Justizvollzugsbeamte haben immer wieder mit psychisch erkrankten Insassen zu tun. Manche sagen, die Zahlen steigen seit Jahren an. Der Umgang für die Haftanstalten ist nicht einfach. Plätze für Therapie sind knapp, Personal fehlt – und auch psychiatrische Klinken außerhalb der Gefängnisse weisen Patienten aus den Haftanstalten oftmals ab. Auch hier aufgrund fehlender Kapazitäten. Abseits des Maßregelvollzugs scheinen deutsche Gefängnisse nicht vorbereitet auf eine Zunahme an psychischen Erkrankungen unter Gefangenen.

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      Deutlich wird diese Versorgungslücke in der Antwort der Bundesregierung auf den Bericht des Anti-Folter-Komitees. Von „mangelnder Aufnahmebereitschaft externer Einrichtungen“ ist die Rede, von „Schwierigkeiten, Gefangene mit schweren psychischen Störungen einer geeigneten therapeutischen Behandlung zuzuführen“, ist zu lesen. Auch davon, dass sich eine Einweisung dieser erkrankten Gefangenen in ein Krankenhaus „meist als schwierig“ erweise – so lautet die Bilanz vieler Landesjustizministerien.

      Auch Deutschland hat eine „Nationale Stelle zur Verhütung von Folter“ mit Sitz in Wiesbaden. Die Mitarbeitenden dort besuchen wie die europäischen Kollegen regelmäßig psychiatrische Einrichtungen und Justizvollzugsanstalten, sie sind unabhängig von den Behörden und helfen, Missstände aufzudecken. Etwa in einer JVA in Baden-Württemberg, in der Hafträume doppelt belegt sind und auf acht Quadratmetern eine Toilette befindet, nur abgetrennt durch „eine Schamwand“. Gefangene sind gezwungen, vor anderen auf Toilette zu gehen. „Gerüche und Geräusche verbreiten sich im Raum“, hält die Nationale Stelle in einem Jahresbericht fest. 

      Blackbox Haft: Eine geschlossene Pforte in einer Justizvollzugsanstalt.
      Blackbox Haft: Eine geschlossene Pforte in einer Justizvollzugsanstalt. © Frank Molter/dpa/Symbolbild | Unbekannt

      Im Bericht 2022 hält die Stelle fest, dass „sowohl im Maßregelvollzug als auch im Justizvollzug“ Personen „über mehrere Wochen, sogar Monate, von anderen Personen abgesondert untergebracht“ wurden. „Erschwerend kam hinzu, dass ihnen teilweise selbst die Möglichkeit verwehrt wurde, eine Stunde im Freien zu verbringen.“

      Es sind eindeutige Vorwürfe. Und doch ist die Tragweite deutlich unter dem, was die Vorwürfe gegen Bedienstete der JVA Gablingen betrifft. Zudem gilt: Das europäische Anti-Folter-Komitee hält fest, dass es „keine Vorwürfe über Misshandlungen Inhaftierter durch das Personal“ bei den Besuchen einzelner Gefängnisse mitbekommen habe. Und auch die deutsche Anti-Folter-Stelle nennt in den Berichten keine gewalttätigen Übergriffe.

      Schon vor einem Jahr hatte das Justizministerium von den Missständen Kenntnis

      Doch die Vorwürfe gegen die JVA Gablingen werfen ein Schlaglicht auf die Lage von inhaftierten Menschen in Deutschland. Die nationale Anti-Folter-Stelle reiste zweimal aus Wiesbaden nach Gablingen, das erste Mal im November 2022. Damals machten die Kontrolleure durchaus „positive Beobachtungen“, wie sie in ihrem Besuchsbericht festhalten. Etwa die Turnhalle, das Werkstattgebäude.

      Doch schon damals fällt den Menschenrechtlern auf, dass es in den „besonders gesicherten Hafträumen“ keine Sitzmöglichkeiten gebe, nur die Matratzen. Stunden oder Tage nur zu liegen oder zu stehen sei „menschenunwürdig“, schrieb die Stelle.

      In den vergangenen Monaten erhielt die Nationale Stelle nach Informationen unserer Redaktion mehrere sehr ernstzunehmende Beschwerden aus der JVA Gablingen. Sie decken sich mit den Vorwürfen des Missbrauchs, denen nun die Staatsanwälte nachgehen. Im August besuchten die Kontrolleure aus Wiesbaden deshalb erneut die Anstalt in Bayern. Die Lage der Gefangenen in den Hafträumen im Keller sei „ganz schlecht“ gewesen, sagt eine Person, die am Besuchstag der Kontrolleure damals vor Ort war. Ein neuer, brisanter Bericht der Stelle ist in Arbeit, bald soll er an die bayerische Landesregierung gehen.

      Beweismittel fokussieren sich auf die Unterbringung in „besonders gesicherten Hafträumen“

      Die Causa Gablingen setzt nun den Justizminister unter Druck. Denn: Das Haus von CSU-Politiker Eisenreich bekam schon vor einem Jahr die Beschwerde der Anstaltsärztin per E-Mail zugeschickt. Das bestätigt das Ministerium nun auch. Es habe damals die Staatsanwaltschaft in Kenntnis gesetzt. Dort hatte man deshalb „Vorermittlungen eingeleitet“. Allerdings hätten erst die Angaben aus den Anzeigen der Anwältin einen „begründeter Anfangsverdacht“ ergeben, so die Staatsanwaltschaft. Details darüber, warum die Beschwerde der Amtsärztin nicht ausreichte, macht die Behörde nicht.

      Nun haben Polizei und Staatsanwaltschaft die JVA Gablingen mehrfach durchsucht, sicherten Akten, elektronische Daten, Handys. Die Beweismittel fokussieren sich auf die Unterbringung von Gefangenen in den „besonders gesicherten Hafträumen“. Auch eine „Vielzahl von Zeugenvernehmungen“ seien geplant, so die Anwaltschaft. Man wird, nachdem die Vorwürfe Wellen in Medien und Politik geschlagen haben, den Gefangenen der JVA Gablingen nun zuhören.

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