Berlin. Der Oppositionelle verbüßte für Kritik am russischen Präsidenten eine lange Strafe. Nun ist er frei. Doch Putins Agenten sind überall.
Es war eine der überraschendsten Wendungen seines Lebens: Der bis dato inhaftierte russische Oppositionspolitiker Ilja Jaschin, Jahrgang 1983, wurde im August aus Russland abgeschoben. Seither lebt er in Berlin. Im Interview beschreibt er, wie er den langen Arm des Putin-Regimes auch in Deutschland spürt, und er erzählt, wie es jetzt für ihn weitergeht.
Herr Jaschin, Sie sind jetzt seit mehr als einem Monat in Berlin. Wie gefällt es Ihnen hier?
Ilja Jaschin: Ich mochte Berlin schon immer. Früher bin ich viel durch Europa gereist, war in vielen Städten und empfand Berlin schon damals als eine sehr angenehme und freie Stadt. Dass ich nun ausgerechnet hier – zwar gegen meinen Willen – gelandet bin, freut mich.
Warum sind Sie gegen Ihren Willen in Berlin gelandet?
Jaschin: Ich wollte Russland nie verlassen. Für mich kam auch Emigration nie in Betracht. Durch den Gefangenenaustausch wurde ich aus Russland deportiert. Das Regime dort versucht gewaltsam, mir meine Heimat wegzunehmen. Am Vortag des Gefangenenaustauschs habe ich sogar eine Erklärung an den Leiter der Haftanstalt geschrieben und darauf hingewiesen, dass die russische Verfassung es verbietet, Bürger gegen ihren Willen auszuweisen. Ich hatte auch keinen Einfluss darauf, ausgerechnet nach Deutschland zu kommen.
Wie kam es dazu?
Jaschin: Von Moskau ging es erst mal mit einem Flieger nach Ankara, dort am Flughafen hat auch der eigentliche Gefangenenaustausch stattgefunden. Anschließend wurden wir, die aus russischen Gefängnissen freikamen, in zwei Gruppen aufgeteilt. Diejenigen, die einen amerikanischen Pass hatten, wurden nach Washington geschickt. Die anderen wurden nach Deutschland geflogen. Viele von uns haben sich dann entschieden, in Berlin zu bleiben, weil hier die Community der russischen Opposition bereits stark entwickelt ist und viele Gleichgesinnte einander helfen. Aber ich weiß, dass ich nur vorübergehend hier bin. Ich werde die deutsche Regierung auch nicht um Asyl bitten. Mein Ziel ist es, zurück nach Russland zu gehen.
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Was würde passieren, wenn Sie zurück nach Moskau fliegen?
Jaschin: Ich würde wieder verhaftet werden. Aber das ist für mich das kleinste Problem. Das viel größere ist, dass ich damit weitere Gefangenenaustausche gefährden würde. Die deutsche Regierung hat mir zu verstehen gegeben, dass ich nun ein freier Mann bin und natürlich auch nach Russland zurückgehen kann. Doch mir wurde auch gesagt, ich soll mir meiner Verantwortung bewusst sein. Wenn ich wieder im russischen Gefängnis lande, wird ein Teil des Deals nicht eingehalten und dann kann der Westen weder mich noch andere politische Gefangene rausholen. Es sitzen so viele meiner Mitsreiter unschuldig hinter Gittern. Ich darf ihr Schicksal durch mein Handeln nicht gefährden.
Ihre Eltern sind noch in Russland. Haben Sie Kontakt zu ihnen?
Jaschin: Ja, meine Eltern sind in Russland und wollen das Land auch nicht verlassen. Vor wenigen Tagen wurde meine Mutter von einer jungen Frau mit Kamera belästigt. Sie fragte sie, warum der Westen ihren Sohn haben wollte und ob es stimmt, dass ich ein ausländischer Agent sei. Offenbar dreht Russland wieder ein Propaganda-Video gegen mich – es wäre nicht das erste Mal. Mir selbst macht das nichts aus, aber es belastet mich, dass meine Eltern bedrängt werden.
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Wie bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt in Berlin?
Jaschin: Mein Youtube-Kanal, auf dem ich Antikriegsaufklärung betreibe, bringt mir Einnahmen. Aber auch meine anderen Social-Media-Kanäle helfen mir, den Lebensunterhalt zu bestreiten. In vielen Bereichen, etwa bei der Wohnungssuche, helfen mir aber auch meine Freunde, die bereits vor Jahren aus Russland nach Berlin emigriert sind. Wissen Sie, ich brauche gar nicht so viel. Ich habe hier keine Familie, habe auch keine Kinder, also kann ich mich mit wenigen Dingen begnügen.
Hat Ihnen die deutsche Regierung Hilfe angeboten?
Jaschin: Ja. Sie haben mir angeboten, bei der Wohnsituation zu helfen, und waren bereit, mir Personenschutz zu stellen. Doch ich habe beides abgelehnt. Ich halte es nicht für angebracht, in Deutschland auf Kosten der Steuerzahler zu leben.
Russen, die sich öffentlich gegen Wladimir Putin stellen, leben gefährlich – auch im Ausland. Haben Sie keine Angst, dass sein langer Arm nach Berlin reichen könnte?
Jaschin: Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich war im russischen Gefängnis, und es ist dort viel gefährlicher als hier draußen. Nach meiner Ankunft in Berlin hatte ich aber ein Gespräch mit der deutschen Polizei. Es ging darum, dass sie sich um meine Sicherheit und mein Auftreten in der Öffentlichkeit sorgen. Ich verstehe das auch, es wäre für den deutschen Staat natürlich ein Problem, wenn ich plötzlich erschossen auf der Straße liegen würde. Die Polizei hat mir deswegen auch Personenschutz angeboten, aber das will ich auf keinen Fall.
Aber würden Sie sich mit Bodyguards nicht sicherer fühlen?
Jaschin: Ich hatte nicht mal in Moskau Bodyguards, warum sollte ich dann hier welche haben? Ich bin mir der Gefahr aber durchaus bewusst. Ich weiß, dass russische Agenten und Auftragsmörder überall sein können. Letzte Woche erst habe ich einen seltsamen Vorfall erlebt.
Erzählen Sie uns davon.
Jaschin: Ich saß mit einem Freund in einem Café hier in Berlin. Plötzlich merkte ich, wie ein Mann am Nebentisch sein Handy zückte und anfing, mich zu filmen. Ich weiß mittlerweile sehr gut, wie russische Agenten oder Polizisten aussehen. Ich hatte oft mit ihnen zu tun. Ich bin mir sicher: Dieser Mann war kein normaler Café-Besucher, sondern hat uns ausspioniert.
Was haben Sie dann gemacht?
Jaschin: Ich habe ebenfalls mein Handy rausgeholt und den Mann fotografiert.
Jaschin entsperrt sein Handy und zeigt das Bild eines etwa 50-jährigen blonden Mannes mit Bürstenhaarschnitt.
Jaschin: Das Foto habe ich dann an die Berliner Polizei geschickt. Sie sollen es überprüfen. Die Polizei bat mich auch darum, ihnen sofort zu sagen, falls ich etwas Seltsames oder Bedrohliches wahrnehme.
Sie haben sich schon immer als russischen Patrioten bezeichnet, der Russland zu einem besseren Land machen möchte. Können Sie das noch, wenn Sie im Exil leben?
Jaschin: Mein Wohnort beeinflusst nicht meine Gefühle zu meinem Heimatland. Ich habe nur ein Zuhause – und das ist Russland. Ich habe mein ganzes Leben dem Ziel gewidmet, Russland zu einem besseren Ort zu machen. Es soll ein liebenswertes und friedliches Land werden. Ob ich Russland auch aus dem Ausland helfen kann? Ich weiß es nicht, aber ich setze alles daran. Tatsächlich ist es so: Als russischer Oppositionspolitiker hast du sogar aus dem Gefängnis heraus mehr Einfluss auf die Bevölkerung als aus dem Ausland. Die Regierung in Moskau weiß das auch sehr gut. Deswegen haben sie mich wohl überhaupt erst zum Austausch freigegeben.
Viele sehen in Ihnen den neuen Alexej Nawalny, der die russische Opposition einen und gegen Putin mobilisieren könnte. Was denken Sie darüber?
Jaschin: Ich verstehe diese ganzen Vergleiche, aber ich denke nicht, dass sie passen. Nawalny war ein enger Freund von mir. Wir kannten uns seit fast 25 Jahren. Wir haben fast gleichzeitig unseren Weg in die Politik eingeschlagen. Unsere Wege haben sich immer gekreuzt und wir haben einander stets geholfen. Wir haben auch beide das Gefängnis dem Exil vorgezogen. Nichtsdestotrotz waren wir sehr unterschiedlich. Jeder hatte seine eigene Nische in der Politik. Ich kann mir niemanden vorstellen, der einen Menschen wie Nawalny ersetzen könnte.
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Braucht die russische Opposition nicht einen Anführer, hinter den sich alle stellen können?
Jaschin: Wir brauchen keinen Chef, der die Aufgaben nach unten delegiert. Unsere Stärke sollte darin liegen, eine große und breite Bewegung zu formen, die von vielen starken und loyalen Oppositionspolitikern und -politikerinnen profitiert. Einen Anführer der Opposition brauchen wir erst dann, wenn es um Präsidentschaftswahlen geht und wir jemanden bei einer demokratischen Wahl aufstellen könnten. Solange das nicht absehbar ist, ist die Diskussion um einen Oppositionsführer sinnlos.
Sie saßen fast zweieinhalb Jahre im russischen Gefängnis. Unter welchen Bedingungen haben Sie dort Ihre Zeit verbracht?
Jaschin: Ich verbrachte viel Zeit in einer Isolationszelle, in der sogenannten „Shizo“. Es ist eine winzige Zelle, nur zwei mal drei Meter groß.
Jaschin schreitet ein kleines Stück des Konferenzraumes ab, um zu zeigen, wie groß seine Zelle war.
Jaschin: Dort gelten besondere Regeln: besonders frühes Wecken und eine begrenzte Zeit zum Schlafen. Tagsüber wird die Pritsche hochgeklappt und an der Wand befestigt. Man kann sich nicht hinsetzen oder hinlegen. Es gibt kein natürliches Licht, sondern nur schwaches Kunstlicht. Auch die Kommunikation ist eingeschränkt. Es sind unmenschliche Haftbedingungen.
Spüren Sie noch Nachwirkungen von dieser Zeit?
Jaschin: Selbstverständlich. Mein Rücken hat extrem gelitten. Die Pritschen in russischen Gefängnissen sind zum Quälen da. Ich kann Ihnen aufzeichnen, wie sie aussehen.
Jaschin fängt an, auf einem Blatt Papier zu zeichnen.
Jaschin: Sie schlafen dort nicht auf einem festen Untergrund, sondern auf Eisenschwellen. Es gibt auch keine Matratze, sondern einen dünnen Bezug, der darüber liegt. Es ist so, als ob man auf Gleisen schlafen würde. Die Wirbelsäule wölbt sich dadurch in Wellen, es ist grauenvoll. Wenn ich wie geplant bis 2030 dort gewesen wäre, hätte ich mir den Rücken vollständig ruiniert.
Auch die Psyche leidet unter solchen Zuständen ...
Jaschin: Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, nur so viel verraten: Meine Gesundheit ist mir sehr wichtig und ich gehe verantwortungsvoll damit um. Ich werde der russischen Regierung nicht den Gefallen tun, mich körperlich oder emotional kaputtzumachen.
Lassen Sie uns über die Ukraine reden. Russlands Angriffskrieg wütet weiterhin dort. Geht der Westen Ihrer Meinung nach richtig mit Wladimir Putin um?
Jaschin: Ich will hier keine Ratschläge geben, wie man in dieser Sache mit Putin umgehen sollte. Ob man mit ihm verhandeln oder sich weiterhin mit Kampfmitteln verteidigen sollte, darüber müssen einzig das ukrainische Volk und die ukrainische Regierung entscheiden. Ich kann nur eines sagen: Sowohl der Westen als auch die russische Opposition sollten alles dafür tun, um die Ukraine zu retten. Wenn wir es zulassen, dass Putin die Ukraine frisst, dann macht er auch nicht mehr halt vor anderen Ländern. Es darf keine Illusion darüber geben, dass Putin sich mit der Ukraine zufriedengeben würde. Er würde immer weitermachen und immer weiter zerstören – und er würde noch härter gegen jegliche Kritiker vorgehen.
Sie setzen sich seit dem ersten Tag gegen den Krieg in der Ukraine ein. Die Mehrheit der Russen schweigt aber oder ist mit Russlands Regime sogar einverstanden.
Jaschin: Ich denke nicht, dass die Mehrheit damit einverstanden ist. Natürlich gibt es Leute, die diesen Krieg und Putin unterstützen. Diese Leute sind laut, aber sie repräsentieren nicht die Mehrheit. Manche haben auch das Stockholm-Syndrom: Putin hat mein Volk als Geisel genommen. Die meisten Leute haben Angst davor, sich gegen ihn und sein Regime zu stellen. Die russischen Gefängnisse sind derzeit voll mit Leuten, die wegen absurder Kleinigkeiten angeklagt wurden, weil sie als regierungskritisch gelten. Wir sprechen hier nicht von Aktivisten, sondern von normalen Bürgern, die zum Beispiel online etwas gelikt oder in den sozialen Netzwerken etwas verschickt haben, was der Regierung nicht passt. In Russland herrscht eine Atmosphäre der Angst. Zudem schafft die Propaganda die Illusion, dass die Mehrheit eine Pro-Putin-Meinung vertritt und dass man, wenn man anders denkt, damit allein ist. Putins Apparat versucht, Kritiker zu isolieren.
Sie sind seit mehr als 20 Jahren in der Politik. Wann haben Sie begriffen, dass Putin gefährlich und zu allem fähig ist?
Jaschin: Als der Oppositionspolitiker und mein guter Freund Boris Nemzow in Moskau erschossen wurde. Ich war einer der ersten am Tatort. Boris lag erschossen auf der Bolschoi-Moskworetskij-Brücke im Moskauer Zentrum. Er lag auf dem Rücken, die Augen waren geöffnet. Im Hintergrund sah man den Kreml. Da wusste ich, dass dieser Horror den Namen von Wladimir Putin trägt.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Wladimir Putin persönlich zu treffen, was würden Sie ihm ins Gesicht sagen?
Jaschin: Ich würde ihn fragen: Haben Sie keine Angst vor Gott? Es ist klar, dass er keine menschengemachten Gerichte fürchtet, aber macht er sich keine Gedanken, wie es um seine Seele steht? Immerhin sagt er immer, dass er so gläubig ist. An seiner Stelle hätte ich Angst vor Gott.
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