Madrid. Auf den Balearen kommen immer öfter Elendskähne aus Afrika an, manche davon an Touristenstränden. Den Behörden sind die Hände gebunden.
Die Urlauber staunten nicht schlecht, als am helllichten Tag an einem gut besuchten Strand auf Südmallorca ein Flüchtlingsboot auftauchte. Viele zückten ihre Handys und machten Fotos und Videos von der Ankunft des Migrantenkahns – eine Szene, welche die Feriengäste bisher nur aus den Fernsehnachrichten kannten und die zu einem Urlaubserlebnis der besonderen Art wurde. In dem kleinen Holzboot mit Außenborder, das am Nachmittag in der Badebucht Cala Gran in der Tourismusgemeinde Santanyí ankam, saßen etwa 20 Menschen.
Kaum hatte das Boot angelegt, sprangen die Afrikaner an Land. Die meisten waren junge Männer. Sie hatten nur das Allernotwendigste in einem kleinen Rucksack oder einer Gürteltasche dabei. An Handtüchern und Sonnenschirmen vorbei liefen sie einer hinter dem anderen zur nahen Küstenstraße, wo sich ihre Spur verlor. Das Boot ließen sie in der Bucht zurück. Inzwischen weiß man, dass die Migranten aus dem nordafrikanischen Algerien kamen, das ein bis zwei Tagesreisen oder rund 300 Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Mittelmeers liegt.
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In diesem Fall handelte es sich um ein kleines Boot. Doch es stranden immer größere Migrantenboote auf der zu Spanien gehörenden Balearischen Inselgruppe. Auf Mallorcas benachbarter Insel Ibiza landete gerade erst ein alter Fischerkahn, auf dem sich eng zusammengepfercht mehr als 100 Menschen drängelten. An Bord waren auch eine Frau mit Baby und mehrere alleinreisende Jugendliche. In diesem Fall kam der Elendskahn nachts im Inselsüden an einem Steinstrand in der Tourismushochburg Sant Josep an. Es war das größte Schiff voller Migranten, das bisher auf den Balearen gesichtet wurde.
4000 Tote oder vermisste Geflüchtete in den letzten zehn Jahren
Die Inselbehörden sind besorgt. Bisher gehörten Mallorca und die Nachbarinseln Ibiza, Menorca und Formentera nicht zu den Hauptzielen afrikanischer Flüchtlinge. Doch dies scheint sich nun zu ändern. Seit Jahresbeginn kamen nahezu 200 Boote mit mehr als 3000 Menschen auf diesen Mittelmeerinseln an – so viele wie noch nie. Allein in den vergangenen beiden Sommermonaten wurden rund 2000 Migranten gezählt. Im gesamten Jahr 2023 waren es 128 Boote mit knapp 2300 Personen. In 2024 könnten es bis zum Jahresende 5000 bis 6000 Flüchtlinge werden, also mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr.
Nicht alle, die in Algerien Richtung Mallorca oder Südspanien ablegen, kommen auch am Ziel an. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) registrierte in den vergangenen zehn Jahren im westlichen Mittelmeer, also zwischen nordafrikanischen und spanischen Küsten, knapp 4000 tote oder vermisste Flüchtlinge. Doch die wirkliche Zahl dürfte nach Einschätzung der IOM-Experten höher liegen: Viele Bootstragödien werden nicht bekannt, weil die Schiffe unbemerkt von der Öffentlichkeit versinken und die Opfer entsprechend nicht mitgezählt werden.
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Der größte Teil der auf Mallorca und Co. ankommenden Migranten sind algerische Bürger. Meist junge Leute, die angesichts hoher Arbeitslosigkeit, mangelnder Perspektiven und eines autoritären Regimes von einer besseren Zukunft in Europa träumen. Aber zuweilen steigen auch komplette Familien in die Boote. So wie jener Vater, der mit Ehefrau und drei minderjährigen Kindern in einem Boot entdeckt wurde. In einer Tiertransportbox hatte der Mann sogar das Haustier der Familie, eine Katze, mitgebracht. „Das ist das erste Mal, dass wir einen vierbeinigen Migranten in einem Boot gesehen haben”, berichtet ein Helfer.
Problem: Algerien akzeptiert keine Rückführung ihrer Landsleute
Mit Abschiebung müssen die auf den Balearen ankommenden Algerier übrigens nicht rechnen. Nach ein bis zwei Tagen in provisorischen Aufnahmelagern werden die meisten Migranten mit der Fähre aufs spanische Festland gebracht, wo sie sich frei bewegen können. Nur alleinreisende Minderjährige, die etwa zehn Prozent der Ankommenden ausmachen, werden auf den Inseln in Heimen untergebracht.
Algerien gehört zu jenen vielen afrikanischen Staaten, die keine Rückführung ihrer Landsleute akzeptieren, erklärt ein spanischer Regierungssprecher. „Die Balearen dienen den Ankommenden als Sprungbrett nach Europa”, sagt er. Die meisten algerischen Migranten versuchten dann, sich von Spanien nach Frankreich, der früheren algerischen Kolonialmacht, durchzuschlagen.
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Noch größer als auf Mallorca ist der Migrationsdruck auf den ebenfalls zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln: Dort kamen seit Januar mehr als 26.000 Menschen in 373 Booten an. Auf den im Atlantik liegenden Vulkaninseln stammen die Schutzsuchenden vor allem aus Westafrika und den Krisen- sowie Kriegsländern unterhalb der Sahara.
Laut Gesamtstatistik der spanischen Regierung kletterte die Zahl der Bootsmigranten bis Ende August landesweit auf mehr als 33.000 – gegenüber 2023 ist dies ein Anstieg um 59 Prozent.