Berlin. Schleuserbanden sind heute aufgebaut wie Unternehmen. Bitter für Ermittler: Sie fassen nur die „kleinen Fische“ eines großen Geschäfts.
Es ist nicht lange her, da nehmen Polizisten in Bayern einen Mann fest, der ihnen viel verraten wird über das Geschäft der Schleuser an der deutschen Grenze. Der Tatverdächtige ist ein Mann, der eine Gruppe an Fahrern unter sich hat, als Angestellte, quasi. Sie bringen Geflüchtete in Autos und Transportern nach Deutschland, irregulär über die Grenze von Österreich. Nahezu täglich passierten die Schleuser-Fahrzeuge die Grenze, heißt es bei der Polizei.
Doch der Mann arbeitete offenbar nicht im Auftrag eines Schleusernetzwerks – sondern hatte etliche „Kunden“, die syrische oder irakische Flüchtlinge durch Europa bis nach Deutschland bringen wollen. Der Tatverdächtige ist das, was Ermittler einen „kriminellen Unternehmer“ nennen. Und Fachleute in den Sicherheitsbehörden sagen: Das Geschäft mit der Flucht funktioniert heute nicht mehr wie eine kriminelle Organisation, etwa mit klaren Hierarchien und Befehlsstrukturen, mit einem „Boss“ und einer Truppe an Untergebenen. Heute, sagen Ermittler, funktioniert Schleuserkriminalität wie ein Reiseunternehmen.
Die Entwicklung begann 2015, als mehr als eine Million Menschen vor allem aus Syrien und Afghanistan vor Krieg und Gewalt nach Europa flohen. Entlang der Route, von der Türkei über Griechenland, Serbien, Albanien, Slowenien und Österreich bis nach Deutschland wittern damals Menschen gute Einnahmen mit der Not der Geflüchteten. Sie stellen ihnen Plätze in sogenannten „Safehouses“, also ein Unterschlupf, wo sich die Migranten ein paar Tage ausruhen können, bevor die nächste Etappe der Flucht beginnt. Die Fluchthelfer organisieren Transporte, fälschen Urkunden, koordinieren den Weg über Grenzen, die mit Stacheldraht und Polizei gesichert sind.
Es ist ein Netzwerk an Menschen entlang der europäischen Fluchtrouten, das nun auch große Schleuserorganisationen für sich nutzen, schreibt Nicola Stufler von der Bundespolizeiinspektion München in einem Beitrag für die Gewerkschaftszeitschrift „Der Kriminalist“. Denn Schleuserorganisatoren erkannten „die Chancen, die sie bieten, und outsourcten diese Bereiche der Tatbegehung“.
Schlepperorganisationen können die Routen für die Geflüchteten schnell ändern
Mächtige Gruppen der organisierten Kriminalität arbeiten mit lokalen Kräften vor Ort zusammen. Dabei kennt die „Ortskraft“ nicht den Boss der Organisation – sondern nur deren Auftraggeber vor Ort, den sogenannten „Residenten“ in den Transit- oder Zielländern. Es ist ein Phänomen, was auch andere Ermittler in den Sicherheitsbehörden in Gesprächen mit unserer Redaktion als „Crime as a Service“ beschreiben: also Kriminalität als „Dienstleistung“.
Für die Polizei ist das im Kampf gegen illegale Schleuserbanden eine große Herausforderung. Denn sie fassen in der Regel nur die „kleinen Fische“ an den Grenzübergängen, etwa die Fahrer von Lastwagen mit Geflüchteten. Doch die wissen meist wenig oder nichts über ihre Auftraggeber, kennen die Chefs der kriminellen Gruppen nicht. Hinzu kommt: Mit dem Netz an lokalen Helfern können die Schlepperorganisationen die Routen für die Geflüchteten schnell ändern, wenn Regierungen in europäischen Ländern die Grenzkontrollen verschärfen. Fahrer, Fahrzeuge, Unterkünfte – all das steht in vielen Staaten bereit, überall wollen Menschen mit Not Geld verdienen. Oft auf Kosten der Geflüchteten.
Parallel zu Fahrern und Fluchthelfern hat sich ein mächtiges Finanznetzwerk etabliert. Es basiert auf sogenannten „Hawaladaren“, Vertrauensleuten vor Ort. Es ist eigentlich ein altes Mittel der Zahlung in arabischen Staaten, heute nutzen es auch die Schleusergruppen. Grob funktioniert es so: In einem Flüchtlings-Hotspot bekommt der Hawaladar von dem Geflüchteten Geld für die gesamte Strecke ins Zielland, etwa Deutschland. In jeder Etappe gibt der Hawaladar einen Betrag über andere Hawaladare vor Ort frei, etwa an die Fahrer oder Dokumentenfälscher.
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Es ist ein Geldtransfer, der nichts hinterlässt. Keine Überweisungsscheine, keine digitalen Speicherdaten auf Servern von Online-Banken, keine Quittungen, keine Kontobewegungen. Für Ermittler ist auch das ein enormes Problem, wenn sie Tätern auf die Spur kommen wollen.
Das alte Denken der Polizei stößt an Grenzen. Ein Beispiel, das Ermittlerin Stufler nennt: Stoppt die Polizei ein Lastwagen mit Syrern und Irakern auf der Ladefläche, dann ist das für die Beamten ein Fall. Es zeigt sich aber schnell, dass die Geflüchteten mit ganz verschiedenen Schleusergruppen „reisen“. Es müssten also Dutzende Fälle bei der Polizei geführt werden.
Die Ermittler in Europa wollen nun vermehrt mit international agierenden Teams den Tätern und den Strukturen der organisierten Kriminalität auf die Spur kommen. Die EU-Polizeibehörde Europol ist oft an Bord, aber auch die Justizbehörde Eurojust. Sie definieren sogenannte „High Value Targets“, also Personen, die sie als Hinterleute der Schleusernetzwerk vermuten.
Für Ermittler bleiben die Grenzkontrollen vor Ort aber ein Ausgangspunkt, um Tätern habhaft zu werden. Zur Fußball-EM in Deutschland im Sommer hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) „temporäre Binnenkontrollen“ veranlasst. Seit Anfang Juni hatte die Bundespolizei nach Auskunft des Ministeriums auf Nachfrage unserer Redaktion 1,6 Millionen Personen an allen deutschen Binnengrenzen kontrolliert. Die Beamten stellten dabei rund 9200 unerlaubte Einreisen fest. 280 Schleuser seien festgestellt und mehr als 6000 Geflüchtete zurückgewiesen worden. Aktuell laufen noch Grenzkontrollen zu Frankreich, Polen, Tschechien, Schweiz und Österreich.
Menschenrechtsorganisationen üben gerade aufgrund der Zurückweisungen an der Grenze scharfe Kritik an der Bundesregierung. Diese Form des Zurückschickens an der deutschen Grenze sei nur unter gewissen Umständen erlaubt. „Definitiv verboten sind Zurückweisungen, sobald ein Asylgesuch geäußert wird“, schreibt etwa der Verein Pro Asyl.
Die Routen der Schleusergruppen haben sich verschoben: in Richtung Mittelmeer
Zugleich ist für Asylsuchende etwa aus Afghanistan, Syrien oder Irak die legale Einreise nach Deutschland nur schwer möglich. Wollen sie in den EU-Schengen-Raum, sind sie auf die Angebote der Schleuser angewiesen.
Für sein aktuelles Lagebild hat das Bundeskriminalamt bundesweite Daten ausgewertet. Es sieht einen Trend: Die Routen der Schleusergruppen haben sich verschoben, weg von den oftmals dicht bewachsenen Schleichwegen des Westbalkans durch Länder wie Albanien, hin zu der zentralen Mittelmeer-Route nach Italien.
Noch etwas fällt den Ermittlern auf: Immer mehr Menschen transportieren die Schleuser in Kleintransportern. Ein Grund dafür könnte sein: Sie sind leicht anzumieten und brauchen keine besondere Fahrerlaubnis. Doch für die Geflüchteten bedeuten diese Reisen auf Ladeflächen eine große Gefahr, „etwa durch Sauerstoffmangel, Dehydrierung, Unterkühlung oder erhöhter Verletzungsgefahr bei Unfällen“, wie das BKA schreibt. Immer wieder passiert es, dass Menschen auf der Flucht in den Fahrzeugen sterben.
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