Essen. SPD, FDP und Grüne sind in Sachsen und Thüringen abgestürzt, auch die CDU überzeugte nicht. Das ist kein ostdeutsches Phänomen.

Kann bei den Kommunalwahlen im kommenden Jahr ein AfD-Politiker Oberbürgermeister im Ruhrgebiet werden, zum Beispiel in Gelsenkirchen? Vor nicht allzu langer Zeit wäre diese Frage einer WAZ-Redakteurin an einen Politikwissenschaftler mit einiger Irritation zur Kenntnis genommen worden. Wahrscheinlich hätte der eine oder andere Beobachter von einer „abwegigen“ oder gar „dummen Frage“ gesprochen. Jetzt ist das anders. „Ausschließen kann man heute nichts“, antwortet Professor Stefan Marschall im WAZ-Interview zu den jüngsten Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen.

Diese Antwort beraubt uns endgültig einer Illusion, die logisch erschien und zugleich beruhigend war: Dass es sich bei den Wahlergebnissen vom Wochenende um ein ostdeutsches Phänomen handelt. Ossis wählen halt die Nazis der AfD und die Kommunisten des Bündnis Sarah Wagenknecht, der Wunsch nach totalitärer Führung steckt dort offenbar noch in vielen Menschen. Solche Aussagen sind immer wieder zu hören und kommen an manchem Stammtisch gut an, sie spiegeln aber nicht die Realität.

Milliardenförderung für den Osten

Richtig und nachvollziehbar ist, dass man gerade mit dem Blick aus dem Ruhrgebiet auf die runderneuerten Städte wie Leipzig, Weimar, Görlitz, Erfurt und viele mehr „den Ossi“ nicht wirklich verstehen kann. Die Ostförderung für Infrastruktur und Wirtschaft floriert, viele Milliarden Euro fließen seit Jahren in die Zukunftsprojekte der Ost-Bundesländer; das alles geschieht auch zu Lasten der ärmeren Städte in NRW, für die mehr Förderung, etwa bei der Altschuldenfrage, wesentlicher Teil der Zukunftssicherung wäre.

Und dennoch funktioniert die These von den undankbaren Ossis nur bedingt. Denn die AfD liegt in bundesweiten Umfragen auf Platz zwei. Sie hat sich also, Stand jetzt, im gesamtdeutschen Parteienspektrum etabliert. Sie wird nicht mehr nur aus Protest gewählt, sondern aus Überzeugung.

Frust und Enttäuschung

Womit wir in Gelsenkirchen und in manch anderer westdeutschen Stadt wären. Die Probleme sind ähnlich gelagert, auch deshalb sind sie alles andere als „nur“ ostdeutsch. Sie reichen von Frust und Enttäuschung über ein Gefühl von Ohnmacht und Ungerechtigkeit bis hin zu einer diffusen Angst vor der Zukunft, die wiederum mit Blick auf wirtschaftliche Krisen und auf die Kriege der Welt, besonders den in der Ukraine, immer konkreter wird.

„Migration und Frieden“ werden in der Regel als wesentliche Themen für aktuelle Wahlentscheidungen genannt. Das war im Übrigen bei den Europawahlen im Frühjahr schon so. Wenn Wählerinnen und Wähler sich dann in erheblicher Zahl für die AfD entscheiden, obwohl ein Großteil dieser Wähler der Partei gar nicht zutrauen, die Probleme zu lösen (es reicht für die Stimmabgabe schon, die Probleme zu benennen), dann läuft bei den etablierten Parteien bis zum heutigen Tag sehr viel falsch.

Wissenschaftler sprechen gern von der Individualisierung der Gesellschaft, einhergehend mit deutlich sinkender Milieu- bzw. Parteienbindung (die es im Osten nach der Wende nie wirklich gab). Viele Menschen formulieren es verständlicher: Wir wollen ernst genommen werden, wir wollen wertgeschätzt werden, wir wollen, dass Politik uns zuhört, wir wollen beteiligt werden. Und wir wollen, dass Politik sich um die Themen kümmert, die wirklich wichtig sind: Arbeit, Wohnen, soziale Gerechtigkeit, Bildung für unsere Kinder mit einem vernünftigen Schul- und einem ausreichenden Kita-Angebot.

Die richtigen Prioritäten setzen

Wir wollen in Städten leben, die nicht verwahrlosen und so sicher wie möglich sind. Ja, wir wollen Menschen helfen, die Hilfe brauchen. Aber es muss leistbar sein. Und wir wollen nicht ausgenutzt werden von Menschen, denen dieses Gemeinwesen egal ist. Wir wissen, dass früher nicht alles besser war, aber wir wissen auch, dass vieles besser sein könnte, wenn diejenigen, die entscheiden und gestalten, die richtigen Prioritäten setzen würden. Wir stehen zur Demokratie. Und wir haben euch noch nicht aufgegeben, ihr etablierten Parteien, aber wacht endlich auf!