Berlin. Der Vergeltungsschlag der Hisbollah fällt für Israel moderat aus. Die Schäden bleiben gering. Doch eine große Gefahr ist nicht gebannt.

Die mit dem Iran verbündete Hisbollah hat mehrere Hundert Raketen auf Israel abgefeuert – die „erste Phase“ der Vergeltung. Ist das der Beginn eines regionalen Flächenbrandes?

Was ist passiert?

Am, frühen Sonntagmorgen hat die mit Iran verbündete Hisbollah-Miliz nach eigenen Angaben mehr als 320 Katjuscha-Raketen aus dem Libanon auf Israel abgefeuert. Dabei seien auch israelische Militärstützpunkte ins Visier genommen worden. Nach israelischen Medienberichten wurden hingegen nur 200 Raketen und Drohnen in Richtung Israel abgeschossen. Sie seien zu einem großen Teil durch den Raketenabwehrschirm „Iron Dome“ abgefangen worden, teilte das israelische Militär mit. Es habe nur „sehr geringen Schaden“ gegeben.

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Die israelischen Streitkräfte hatten vor der Hisbollah-Attacke nach eigenen Angaben Präventivangriffe auf Stellungen der Miliz im Südlibanon durchgeführt. Dabei seien mehr als 100 Kampfjets eingesetzt worden. Israelische Geheimdienste hatten zuvor mitgeteilt, dass die Hisbollah Tausende Raketen und Drohnen auf Israel habe abfeuern wollen.

Wird die Hisbollah weitere Angriffe auf Israel starten?

Die Hisbollah rechtfertigte die Attacken vom Sonntag als Vergeltung für den Ende Juli in Beirut von Israel getöteten Hisbollah-Kommandeur Fuad Schukr. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hatte Israel danach mit einer harten Bestrafung gedroht. Die Schiiten-Miliz erklärte am späten Sonntagmorgen „die erste Phase“ der Vergeltung für beendet. Mit weiteren Angriffen ist zu rechnen. Die Miliz verfügt nach Schätzungen westlicher Sicherheitskreise über rund 150.000 Raketen, die zum Teil GPS-gesteuert sind.

Dieses Foto, aufgenommen von einer Position in Nordisrael, zeigt eine Hisbollah-Drohne, die von israelischen Luftstreitkräften über Nordisrael abgefangen wurde. 
Dieses Foto, aufgenommen von einer Position in Nordisrael, zeigt eine Hisbollah-Drohne, die von israelischen Luftstreitkräften über Nordisrael abgefangen wurde.  © AFP | JALAA MAREY

Ist das der Beginn einer großen regionalen Eskalation?

Die gute Nachricht ist: Der Hisbollah-Angriff vom Sonntag ist nicht Teil einer großangelegten Attacke auf Israel. Dies wäre dann der Fall, wenn Israel gleichzeitig unter Beschuss durch den Iran und seine Verbündeten Hisbollah, Hamas, die schiitischen Milizen im Iran und in Syrien sowie die Huthis im Jemen käme. Dann bestünde die Gefahr, dass Israels Systeme der gestaffelten Raketenabwehrschirme „Iron Dome“, „David’s Sling“ und „Arrow 3“ überlastet würden.

Greift der Iran in die militärische Auseinandersetzung ein?

Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Irans Oberster Führer Ali Chamenei hat nach der Tötung des Hamas-Auslandschefs Ismail Hanija am 31. Juli in Teheran eine „harsche Bestrafung“ Israels angekündigt. Die Demütigung, dass ein hochrangiger ausländischer Politiker ich einem Gästehaus der Revolutionsgarden auf eigenem Territorium ausgeschaltet wurde, sitzt tief.

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Aber der Iran befindet sich in einem Dilemma. Der erste Reflex der politischen Führung ist, Israel empfindlich zu treffen. Doch die Politiker der Islamischen Republik sind als strategische Denker bekannt, die vor Schnellschüssen zurückschrecken. Das Land fürchtet einen gewaltigen Vergeltungsschlag Israels, der auch eine massive Beschädigung der eigenen Atomanlagen umfassen könnte. Auch könnten wichtige Ziele der zivilen Infrastruktur wie Kraftwerke und Energieanlagen getroffen werden.

Welche Rolle spielen die USA für die weiteren Ereignisse?

Tatsächlich wirken die USA Im Hintergrund als Abschreckungsmacht: Der wichtigste Verbündete Israels hat zwei Flugzeugträger samt Begleitschiffen und verschiedene Kampfjet-Geschwader in der Region. Hinzu kommt, dass der Iran in einer gewaltigen Wirtschaftskrise steckt. Die internationalen Sanktionen gegen die Öl- und Gasgroßmacht sind einschneidend. Wird die Wirtschaft durch Militärschläge weiter geschwächt, gefährdet dies die Stabilität des Systems.

Schon jetzt ist die politische Elite des Irans gespalten. Die Revolutionsgarden tendieren zu einer starken Vergeltungsaktion gegen Israel. Der neugewählte Präsident Massud Peseschkian gilt hingegen als gemäßigter Reformer, der eine Annäherung an den Westen anstrebt. Er will zurück zum 2018 durch den damaligen US-Präsidenten Donald Trump gekündigten Atomabkommen. Sein Ziel: Die Einschränkung der nuklearen Kapazitäten des Irans gegen Abbau oder gar Streichung der Sanktionen.

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    Die entscheidende Rolle spielt aber der Oberste Führer Chamenei. Vieles spricht dafür, dass er als Vergeltung für die Hanija-Tötung eine begrenzte Militäraktion befürwortet – mit dem Hintergedanken, dass Israels Vergeltungsvergeltung ebenfalls dosiert ausfällt. Der Iran hat wie Israel kein Interesse an einem großen regionalen Krieg. Es bestehen allerdings mehrere Risiken. Der Iran könnte sich bei seiner gemäßigten Vergeltungsaktion verkalkulieren und Israel stärker zurückschlagen als erwartet. Dies könnte wiederum eine heftigere iranische Reaktion provozieren. Es wäre der Beginn einer Eskalationsspirale.

    Ist der Einmarsch israelischer Bodentruppen in den Libanon zu befürchten?

    Nur als letztes Mittel. Die rechtsextremistischen Hardliner in der Koalition von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu fordern dies zwar, doch der Regierungschef scheut vor einem Zwei-Fronten-Krieg gegen die Hamas und die Hisbollah zurück. Einstweilen beschränkt sich Israel vor allem auf Luftangriffe gegen Ziele der Hisbollah im Libanon.

    Was bedeuten die Hisbollah-Angriffe für die Verhandlungen in Kairo?

    Angesichts der geringen Schäden schickt Israel wie geplant eine hochrangige Verhandlungsdelegation nach Kairo. Die Chancen auf einen Deal über eine Waffenruhe in Gaza sowie einen Austausch von Geiseln gegen palästinensische Gefangene sind allerdings gering. Netanjahu beharrt auf eine militärische Präsenz Israels an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten (Philadelphi-Korridor), um Waffenschmuggel zu verhindern. Die Hamas lehnt das ab.

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