Dresden. Bei der Landtagswahl in Sachsen ringen AfD und CDU um Platz eins. Der Ministerpräsident setzt auf eine Strategie, die viel Kraft kostet.
„Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“, singt Nina Hagen in ihrem berühmten Lied über einen ostdeutschen Sommer. Das Lied ist jetzt 50 Jahre alt, ein Jahr älter als Michael Kretschmer, aber es passt gerade wieder ziemlich gut, in diesem Sommer in Sachsen, wo Kretschmer auf den letzten Metern des Wahlkampfs ausschließlich auf Schwarz-Weiß setzt. Auf ein hartes Wir oder die anderen. Auf ein Duell zwischen CDU und AfD. Auf einen Zweikampf um die Demokratie. Ausgang? Offen.
Es wird eng bei der Landtagswahl. Jede Stimme zählt – das ist in Sachsen kein abgenudelter Spruch, das ist bittere Realität. AfD und CDU liegen in den Umfragen beide bei rund 30 Prozent, zuletzt lag die CDU wieder knapp vorne. Weil alle anderen Parteien zittern müssen, ob sie überhaupt über die Fünf-Prozent-Hürde kommen, kann es sein, dass am Ende nur CDU, AfD und das BSW im Parlament sitzen.
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Auf den Wahlplakaten, die in Dresden am Elbufer hängen, hat Kretschmer noch das Gesicht eines Mannes, der genug isst und schläft. Jetzt, wenige Tage vor der Wahl, sieht Kretschmer so hager aus wie ein Marathonläufer bei Kilometer 41. Die Methode Kretschmer ist ein Energiefresser.
Sachsen: Kretschmer sieht so hager aus wie ein Marathonläufer bei Kilometer 41
9.25 Uhr am Blauen Wunder. Im Seniorenheim, ein paar Schritte von Dresdens schönster Elbbrücke entfernt, kann man seine Methode in Reinform beobachten: Wahlkampf als Nahkampf. Keine Frage ist ihm zu blöd, keine Provokation zu billig. „Warum holen Sie so viele Ausländer rein?“, fragt Gerlinde Kunanz und schiebt hinterher: „Ich bin nicht ausländerfeindlich, aber warum? Wir haben doch genug Arbeitslose.“ Kretschmer holt tief Luft.
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„Jetzt passt mal auf“, beginnt er wie ein Sachkundelehrer vor der vierten Klasse. Dann erklärt er der 86-Jährigen, dass es ja zwei Sorten von Ausländern gebe. Diejenigen die Deutschland gut gebrauchen kann, in der Uniklinik, in der Chip-Fabrik, in der Pflege. Und diejenigen, die auf der Flucht vor Armut oder Krieg sind. Da sei die Zahl zu hoch. „Da müssen wir runter. Da bin ich bei Ihnen.“
Gerlinde Kunanz nickt zufrieden. Vor allem, als Kretschmer erklärt, was er mit denen vorhat, die in Deutschland arbeiten könnten, aber nicht wollten: „Heute ist es so, dass wir den Leuten hinterlaufen und sagen, bitte geh doch arbeiten.“ Es müsse umgekehrt sein: „Die Leute müssen kommen und sagen: ‚Ich bin jetzt gerade in Not‘. Da kannste sagen, hier gibt es eine Möglichkeit: ‚Die Elbe von Kilometer 20 bis 30 bitte bis heute Abend sauber machen!‘ Wenn das erledigt ist, gibt es das Geld.“ Migration, Bürgergeld, Gerechtigkeit – alles gelöst und am Ende ist auch noch die Elbe sauber. Die Wirklichkeit ist komplexer – aber das zählt hier nicht. Gerlinde Kunanz jedenfalls findet’s prima.
AfD oder CDU? Wahlkämpfer: „Hier müssen alle mal auf die Couch“
Eine Stunde später stößt Kretschmer auf den ersten echten Wutbürger an diesem Morgen. Sebastian Rölke ist stinksauer. Der Mindestlohn, die Mehrwertsteuer, der Fachkräftemangel und parken können seine Gäste jetzt auch nicht mehr direkt vor der Tür. „Da könnte ich mich radikalisieren“, warnt er den Ministerpräsidenten. Verliert Kretschmer gerade wieder einen an die AfD?
Rölke betreibt die Villa Marie, ein hübsches Restaurant direkt am Elbufer. Auch die Staatskanzlei reserviert hier manchmal einen Tisch, wenn Gäste kommen. Kretschmer versucht, das Wutknäuel aufzudröseln. Hoher Mindestlohn und Rückkehr zur höheren Mehrwertsteuer – beides Entscheidungen der Ampel in Berlin. Beides findet er genauso falsch wie sein Gegenüber. Wieso will der das nicht begreifen? „Du kannst doch nicht alles in einen Topf werfen!“ Jetzt wird auch Kretschmer mal ein bisschen laut. Rölke gefällt das. Einmal ordentlich Dampf ablassen. Am Ende ist keins seiner Probleme gelöst, aber die Wut ist raus. AfD wählen, kommt das für ihn noch in Frage? Er winkt ab. „Von nichts bin ich weiter entfernt.“
TikTok & Co.: Kretschmer hält soziale Medien für extrem gefährlich
Martin Modschiedler kennt diese Szenen. „Hier müssen alle mal auf die Couch“, sagt der CDU-Mann aus Dresden. Diese Wut, diese Verlustängste, dagegen helfe nur eins: reden, reden, reden. Kretschmer hat das zu seinem Markenzeichen gemacht. Es war seine Antwort auf die Pegida-Bewegung, und es ist jetzt seine Taktik gegen die AfD. Nur so, glaubt er, kann man die Leute aus ihren digitalen Echokammern holen: „Meine Erfahrung aus dem Wahlkreis ist: Die Sozialen Medien sind extrem gefährlich, die Leute leben in ihrer eigenen Realität, und man kann in diese Realität nur noch eindringen, wenn man sich persönlich gegenübersteht und miteinander redet.“
Kretschmer steht am Nachmittag zwischen zwei Terminen an einem Stehtisch und schlingt ein Stück Pflaumenkuchen runter. Eine neue Allensbach-Umfrage ist raus: 54 Prozent der Ostdeutschen finden, dass sie nur scheinbar in einer Demokratie leben, dass die Bürger nichts zu sagen haben. Kretschmer sieht die Schuld bei der Ampel. „Migration – es tut sich nichts, Energiekrise – es tut sich nichts.“ Wo andere Erfolge sehen, sieht Kretschmer nur Versagen. „Diese Menschen sind weg, sie ringen nicht mehr mit uns, man erreicht sie überhaupt nicht mehr. Das ist dramatisch.“ Er versucht’s trotzdem. Auf seine Art.
Woher er die Energie nimmt, um sich sieben Tage die Woche in den verbalen Nahkampf zu werfen? Er tippt auf den Rest Pflaumenkuchen. Ernsthaft? Nein, essen ist zwar wichtig, etwas anderes aber treibt ihn an: „Ich ziehe die Kraft aus meiner Aufgabe“, sagt Kretschmer. Ich will diesem Land noch einmal eine stabile Regierung geben. Es ist alarmierend, wieviel Hass die AfD und ihre Anhänger verbreiten, gerade auch im Netz. Man darf diesen Rechtsextremen niemals die Macht geben. Aber es wird dieses Mal extrem knapp.“
Regieren in Sachsen? Zu Not auch mit der Wagenknecht-Partei
An diesem Abend muss Kretschmer noch nach Hoyerswerda. Hier hat die AfD schon 2019 das Direktmandat gewonnen. Landesweit dagegen liegt Kretschmer vorne: Dürften die Sachsen ihren Ministerpräsidenten direkt wählen, so würden sich knapp 60 Prozent für Kretschmer entscheiden. Es gibt etliche im Land, die bereit wären, strategisch CDU zu wählen, Hauptsache die AfD wird nicht stärkste Kraft.
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Leicht macht es Kretschmer ihnen jedoch nicht – mit seiner harten Abgrenzung gegen die Ampelparteien SPD und Grüne (mit denen er gleichzeitig seit fünf Jahren in Dresden regiert) und seiner harten Linie in der Migrationspolitik. Leicht macht es Kretschmer auch seinen eigenen Leuten in der Bundes-CDU nicht: Den Ukraine-Krieg einfrieren und Verhandlungen starten? Waffenlieferungen reduzieren? Passt so gar nicht zum Kurs von Friedrich Merz.
In der CDU lassen sie ihm dennoch Beinfreiheit. Sie wissen: Wenn Kretschmer verliert, ist das ein Zeichen weit über Sachsen hinaus. Damit er weiterregieren kann, hat Merz bereits signalisiert: Zur Not auch mit dem BSW. Der Chor in der Stadthalle von Hoyerswerda singt an diesem Abend den Queen-Hit „We are the Champions”. Am 1. September wird sich zeigen, auf wen das zutrifft.