Washington. Noch vor Kurzem war sie die unbeliebteste Vize-Präsidentin der US-Geschichte. Ihr Durchmarsch ins Weiße Haus ist keineswegs ausgemacht.
Es liegt in der Natur der Dinge, dass nach Flitterwochen der graue und oft mühselige Ehe-Alltag einzieht. Übertragen auf die taufrische Liebelei zwischen Kamala Harris und erstaunlich großen Teilen der amerikanischen Wählerschaft bedeutet das: Schon ab kommender Woche, wenn der Parteitag der Demokraten in Chicago Geschichte ist und der Himmel nicht mehr voller blau-weiß-roter Luftballons hängt, folgt die Probe aufs Exempel.
Kann die unter schwierigsten Umständen mit bilderbuchhafter Leichtigkeit gestartete Ersatzfrau von Amtsinhaber Joe Biden ihren Höhenflug fortsetzen? Tritt endlich Substanz an die Stelle von Verpackung und Gefühligkeit – oder steht bereits die Bruchlandung kurz bevor?
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Entscheidend wird sein, ob es Harris und der gesamten Partei gelingt, die Neue als attraktiv und verheißungsvoll für möglichst viele Wählerschichten zu definieren, bevor dem zu allen Schlechtigkeiten bereiten Gegner das Gegenteil gelingt. Heißt im Klartext: Ein solides Gefühl für Brot-und-Butter-Themen zu haben und eine Antenne für eine neue Übereinkunft, die die „Unvereinigten Staaten von Amerika“ wieder zusammenrücken lassen kann.
Harris kurzfristige Kandidatur: Ein Rennen gegen die Zeit
Der Faktor Zeit hat hier großes Störpotenzial. Team Harris hat nur 80 Tage, um Profil aufzubauen und über Jahre verfestigte Vorurteile und Zweifel über die Verlässlichkeit der Demokraten auszuräumen. Dabei müssen „unforced errors”, halbgare Konzepte, argumentative Patzer, Verprellungen von einzelnen Wählergruppen und das Auftauchen unangenehmer Altlasten vermieden werden. Mit anderen Worten: Multi-Tasking hoch zwei.
Welche Fehlerquote das bis dato genervt, ungeduldig und ernüchtert auf Washington schauende Publikum der Biden-Nachfolgerin zubilligt, ist offen. Man darf bei allen aus demokratischer Sicht euphorisch stimmenden Umfrage-Ergebnissen nicht vergessen: Noch vor drei Monaten war Harris die seit 20 Jahren unbeliebteste Vizepräsidentin. Selbst wenn man konstatiert, dass da viel Ungemach über das Gerontokratische von Joe Biden abgefärbt hat – all zu viele Schüsse hat die 59-Jährige nicht frei.
Das zeigt sich bereits an den Reaktionen auf ihr noch im Stichworte-Stadium steckenden Wirtschaftsprogramm. Kamala Harris will als Kümmerin punkten, die anders als Milliardäre keinen Übersetzer für Alltagssorgen – etwa ausufernde Preise im Supermarkt – benötigt. Gut so. Aber so zu tun, als könne man aus dem Handgelenk Preiswucher gerichtsfest mit einem Dekret bekämpfen, ist unter dem Strich so unseriös wie vieles, was Trump täglich von sich gibt.
Donald Trump könnte am Ende doch noch frohlocken
Mit einem Unterschied: Trump muss sich nicht andichten lassen, in den raubtierkapitalistischen USA sozialistisch anmutende Methoden einführen zu wollen. Doch alles, was Harris – umgeben von ihren Top-Beratern – unternimmt, spielt sich ab sofort auf einem Drahtseil ohne Fangnetze ab. Bidens Schicksal hat gezeigt, wie binnen Tagen aus einer kleinen Welle ein Tsunami werden kann, der alles mit sich reißt.
Schießt Harris mehr als einen Bock, eskalieren die Kriege im Nahen Osten oder in der Ukraine, ereignet sich ein Terror-Anschlag auf amerikanischem Boden, schlingert das Land doch noch in eine Rezession, ist es bei den Demokraten und den Wählern nur ein Katzensprung von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt.
Donald Trump könnte am Ende frohlocken. Er, der verurteilte Straftäter, wäre ihr, der ehemaligen Staatsanwältin, dann doch entwischt. Das Gegenteil von Happy-End. Das darf bitte nicht sein.