Berlin. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff über alte Ängste vor Russland, die AfD als West-Produkt – und die Intel-Ansiedlung.
Die AfD ist besonders in den ostdeutschen Bundesländern stark. Woran das liegt? Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) gibt eine Antwort, die im Westen viele verblüffen wird. Überraschend auch seine Begründung für die Haltung vieler Ostdeutscher zum Ukraine-Krieg: Wer im Westen unter dem Schutz der Amerikaner aufgewachsen ist, könne sich vieles eben nicht vorstellen, sagt der CDU-Mann. Ein Gespräch über tief sitzende Ängste, bittere Erfahrungen – und über den Investor Intel.
Herr Haseloff, warum ist die AfD in den ostdeutschen Bundesländern so stark?
Reiner Haseloff: Dazu muss man erst mal fragen, was in Westdeutschland schiefgelaufen ist: Die AfD wurde im Westen gegründet, bis heute sind die wichtigsten Führungsköpfe und Ideologen Westdeutsche. Aber auch in den Medien, in den Unternehmen und in den anderen Parteien bestimmen Westdeutsche das Bild. Die Öffentlichkeit schaut mit westdeutscher Brille auf den Osten. Das führt dazu, dass sich viele Ostdeutsche nicht richtig wahrgenommen fühlen.
Das erklärt noch nicht, dass in Umfragen 30 Prozent sagen, dass sie die AfD wählen wollen …
Mich wundert tatsächlich, dass so viele im Osten diesen Leuten aus dem Westen folgen. Björn Höcke, Alice Weidel und viele andere – die AfD ist zuallererst ein westdeutsches Geschäft. Höcke lässt sich ja nicht ohne Grund auf einer Simson fotografieren; er will zwanghaft als Ostdeutscher erscheinen. Abgesehen davon ist die Zustimmung zur AfD in vielen Regionen im Westen ebenfalls hoch. Die Frage, warum die AfD im Osten so stark ist, wird leider recht eindimensional gestellt.
Wie meinen Sie das?
Wir haben im Osten trotz weiter bestehender Unterschiede zu prosperierenden Teilen des Westens viel erreicht: beim Lebensstandard, der wirtschaftlichen Entwicklung, auch bei den Löhnen. Umso größer sind angesichts der Herausforderungen der Gegenwart Verlustängste ausgeprägt. Die Menschen im Osten haben schon einmal den Zusammenbruch eines Systems erlebt und die Kapitaldecke im Osten ist immer noch deutlich dünner als im Westen.
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Woher kommt es, dass sich viele Ostdeutsche eine Kursänderung in der Ukraine-Politik wünschen – keine Waffenlieferungen mehr, dafür Verhandlungen mit Putin?
Die Mehrheit der Ostdeutschen ist kein Anhänger der Politik Putins. Sie sind froh, dass keine russischen Truppen mehr im Land stationiert sind. Anders als im Westen kennen wir im Osten die Russen recht genau, auch mental. Sie können sehr robust sein und man traut ihnen aus alter Erfahrung vieles zu. So fürchtet man zum Beispiel unkontrollierbare Reaktionen aus Moskau. Und wir wissen als Leidtragende der sowjetischen Besatzung, dass schon andere daran gescheitert sind, einen Sieg über Russland zu erreichen.
Was meinen Sie konkret?
Ich gebe ihnen ein Beispiel: Ich war 1991 stellvertretender Landrat in Wittenberg. Wir hatten dort mehrere Tausend russische Soldaten stationiert. Während des Putschversuchs in Moskau hatten wir große Angst, dass sich die Soldaten am Umsturz beteiligen. Was wäre dann passiert? Das vergisst man nicht. Ich habe auch nicht vergessen, wie ich als Kind erleben musste, wie die Russen mit Deserteuren umgegangen sind. Wer im Westen unter dem Schutz der Amerikaner aufgewachsen ist, kann sich das nicht vorstellen.
Sie trauen Putin alles zu?
Wladimir Putin hat seine menschenverachtenden Atom-Drohungen ernst gemeint. Und ein atomarer Konflikt ist nach wie vor nicht ausgeschlossen. Bei uns wirken solche Drohungen aber noch wesentlich existenzieller als im Westen. Im Osten wünschen sich deswegen viele, dass über die Diplomatie so schnell wie möglich für Frieden gesorgt wird. Hinzu kommt, dass gerade der Osten unter den wirtschaftlichen Folgen des Krieges und der Sanktionen unverhältnismäßig leidet. Denken wir nur an die Energiekosten und die Lage der bei uns besonders ausgeprägten chemischen Industrie.
In zwei Wochen wird in Sachsen und Thüringen gewählt. Sie haben mal etwas geschafft, wovon viele andere in der CDU träumen: Bei der letzten Landtagswahl ist die AfD geschrumpft. Was ist ihr Rezept?
Die Lage ist diesmal schwieriger: Viele Ostdeutsche empfinden die Politik der Bundesregierung als Belastung. Sie haben den Eindruck gewonnen, dass viel Symbolpolitik stattfindet, aber die wirklichen Probleme der Leute nicht angegangen werden. Das überschattet vieles. Es ging zuletzt bei den Europa- und Kommunalwahlen überhaupt nicht mehr um gute oder schlechte Politik in den einzelnen Bundesländern, sondern nur noch darum, die Politik des Bundes als Ganzes abzustrafen. Die AfD greift die verbreiteten Vorbehalte gegen „die da oben“ nicht ungeschickt auf.
Nehmen wir mal an, ein AfD-Mann wird Ministerpräsident in einem ostdeutschen Bundesland. Ist Deutschland darauf vorbereitet?
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieser Fall nicht eintritt. Es wird immer noch eine Mehrheit an der AfD vorbei geben. Wir sind immer noch eine der stärksten und international verflochtensten Volkswirtschaften der Welt, mit einem hervorragenden Sozialstaat, und wir haben die Kraft zu zeigen, dass wir das Ruder wieder herumreißen können.
Intel plant in Sachsen-Anhalt eine Milliardeninvestition. Hat sich Intel-Chef Pat Gelsinger bei Ihnen eigentlich schon mal über die AfD beschwert?
Nein, der guckt ja auf ganz Europa und Deutschland und sieht, dass es rechte Kräfte in jeder Region der Welt gibt; er weiß auch, dass wir hier etwas dagegen tun.
Der US-Chiphersteller befindet sich in der Krise. Als Reaktion auf den jüngsten Quartalsverlust in Höhe von 1,6 Milliarden Dollar sollen 15 Prozent der Stellen gestrichen werden. Angst, dass Intel das in Magdeburg geplante Werk noch mal überdenkt?
Wir stehen in Kontakt mit Intel und haben keine Signale, dass für Magdeburg irgendeine Planänderung ansteht. Hier zu investieren, entspricht weiterhin der strategischen Ausrichtung von Intel. Alles, was wir bisher auf dem Gelände gemacht haben, wäre ohnehin auch für andere Branchen gut nutzbar. Es gibt deutschlandweit einen Mangel an guten Industrie- und Gewerbeflächen und wir haben hier ein ausgewiesenes Filetstück, was ja dazu geführt hat, dass Intel sich im Wettbewerb mit über 60 Standorten für Magdeburg entschieden hat.
Gibt es Bedenken bei dem Vorhaben, genügend Beschäftigte für Intel nach Sachsen-Anhalt locken zu können?
Überhaupt keine. Zum einen wird bei solchen Vorhaben weltweit rekrutiert und zum anderen haben wir zigtausende Fachkräfte, die täglich von Sachsen-Anhalt aus in den Westen pendeln.
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Der Jenoptik-Chef hat mit Blick auf den Hauptsitz der Firma erst kürzlich gewarnt, eine starke AfD würde zu Schwierigkeiten im Werben um dringend benötigte internationale Spezialisten führen. Das macht Ihnen keine Sorgen?
In Thüringen mag die Situation eine völlig andere sein. Politisch haben da über die letzten zehn Jahre Verschiebungen innerhalb der Parteienlandschaft stattgefunden, die es anderswo in Deutschland so nicht gibt. Aus Sachsen-Anhalt sind mir solche Aussagen oder Tendenzen nicht bekannt.
Womit kann Sachsen-Anhalt im bundesweiten Wettbewerb um Fachkräfte punkten?
Da gibt es einiges: Hier finden die Menschen noch eine bezahlbare Wohnung, die Verkehrsanbindung ist gut, wir haben ein leistungsfähiges Schulsystem und Familien finden ohne Probleme einen Kitaplatz. Unsere Universitäten sind traditionell naturwissenschaftlich und technisch ausgerichtet; sie passen sich sehr schnell an veränderte Bedarfe an. Intel hat übrigens die 60 Standorte auch hinsichtlich der Fachkräftesituation gescannt. Da hat Sachsen-Anhalt auch entsprechend gut abgeschnitten.
Die deutsche Wirtschaft klagt über Bürokratie, hohe Energiepreise und langwierige Genehmigungsverfahren. Glauben Sie, dass sich Intel unter den derzeitigen Voraussetzungen auch noch für Magdeburg als Standort entschieden hätte?
Ein Pat Gelsinger, der in einer der größten Demokratien der Welt groß geworden ist und lebt, weiß, dass Demokratien in der Lage sind, solche Probleme zu lösen. Gleichzeitig hat er nach wie vor das größte Vertrauen, dass so eine Investition in Deutschland bestens gelingen kann.
Unmittelbar nach den Landtagswahlen im September will die Union ihren Kanzlerkandidaten benennen. Gehen Sie davon aus, dass es Friedrich Merz wird?
Wir als CDU haben mit Friedrich Merz unseren Kanzlerkandidaten. Jetzt müssen sich Friedrich Merz und Markus Söder einigen, wer es am Ende macht. Ich traue es beiden zu. In jedem Fall wird die Union einen hervorragenden und entscheidungsfreudigen Kanzlerkandidaten haben.
Sie sind inzwischen der dienstälteste Ministerpräsident. Treten Sie in zwei Jahren noch mal an?
Fragen Sie meine Frau! (lacht) Nein, im Ernst: Wir werden das im September 2025 entscheiden, ein Jahr vor der nächsten Landtagswahl.
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