Mexiko-Stadt. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Inflation grassiert – nun erlebt Kuba den größten Exodus seit 1959. Und China gewinnt an Einfluss.

Wer verstehen will, warum die Kubanerinnen und Kubaner inzwischen zu Millionen ihrer Insel den Rücken kehren, dem genügt ein Blick auf die nüchternen Zahlen: Der Preis für eine Packung Eier übersteigt den monatlichen staatlichen Mindestlohn. Die Zuckerindustrie, einst Vorzeigesektor und Stolz der Insel, ist zusammengebrochen. Kuba muss Zucker im Ausland zukaufen. Milchpulver, vor allem für die Kinderernährung, erbittet Havanna beim UN-Welternährungsprogramm.

Die kommunistisch regierte Insel ist nicht mehr in der Lage, die Bevölkerung mit grundlegenden Gütern zu versorgen – geschweige denn darüber hinaus. „Wir hangeln uns von einem Mangel zum nächsten, den Menschen geht die Kraft aus“, erklärt Maria Elena Quinteros aus Havanna. Nach offiziellen Angaben schrumpfte Kubas Wirtschaft 2023 um zwei Prozent, während die Inflation rund 30 Prozent erreichte. Die Vertiefung der Krise ist nach Angaben der Regierung auf die Verschärfung des US-Embargos in den vergangenen Jahren, die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Tourismus und die hohe Teuerungsrate zurückzuführen.

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Unabhängige Ökonomen hingegen werfen der Regierung von Präsident Miguel Díaz-Canel vor, die Notwendigkeit grundsätzlicher marktwirtschaftlicher Reformen in den vergangenen Jahren ignoriert und so für die Krise verschärft zu haben. Das nahezu religiöse Festhalten an zentraler Planwirtschaft und staatlicher Kontrolle mache jede umfassende Verbesserung der Lage unmöglich, sagt etwa Pavel Vidal, kubanischer Wirtschaftswissenschaftler an der katholischen Javeriana-Universität im kolumbianischen Cali.

Kuba erlebt den größten Exodus seit Beginn der Revolution 1959

Die landwirtschaftliche Produktion scheitert an fehlendem Dünger, alten Maschinen, staatlichen Reglementierungen, Abgabezwängen, fehlendem Strom und Benzin. Es fehlt an Devisen für Importe. Die Inflation grassiert; die Wirtschaft ist faktisch dollarisiert. Wer aber die „Greenbacks“ nicht hat, hungert und leidet. Zu allem Überfluss kontrastiert der Mangel zunehmend mit wachsender Ungleichheit. Diejenigen, die durch Auslandsüberweisungen über Dollar verfügen, leben bisweilen sogar gut.

Vor einem verblassten Wandbild des Revolutionshelden Che Guevara kauft eine Kubanerin an einem Stand Bananen. Viele Kubaner sehen auf der Insel keine Zukunft mehr.
Vor einem verblassten Wandbild des Revolutionshelden Che Guevara kauft eine Kubanerin an einem Stand Bananen. Viele Kubaner sehen auf der Insel keine Zukunft mehr. © DPA Images | Nick Kaiser

Nahezu zwei Milliarden Dollar schickten Angehörige 2023 an ihre Familien auf der Insel. Doch wer keine Verwandten im Ausland hat und keine Überweisungen bekommt, muss mit dem kargen Staatslohn von umgerechnet weniger als 30 Dollar auskommen. Und wenn dann die Teuerung noch die wenigen Peso wegfrisst, zögern viele Menschen nicht, Sack und Pack zu nehmen und zu gehen. In manchen Stadtteilen stehen mittlerweile ganze Straßenzüge leer. Wer nicht gehen kann oder will, verliert langsam die Geduld mit der Regierung. Kleinere und größere Proteste gegen die Versorgungslage gibt es immer wieder. 

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Nach Angaben der kubanischen Statistikbehörde hat zwischen Ende 2021 und Ende 2023 ein Zehntel der 11,2 Millionen Einwohner das Land verlassen. Das sind mehr als eine Million Menschen. Es ist der größte Exodus seit 1959, dem Beginn der Revolution. Der kubanische Ökonom Juan Carlos Albizu-Campos geht in eigenen Berechnungen davon aus, dass die Migration wesentlich größer ist und nur noch 8,6 Millionen Menschen in Kuba leben. Das entspräche einem Bevölkerungsschwund von 18 Prozent seit 2022. Und es gehen in erster Linie die Jungen. Drei Viertel der Auswanderer sind zwischen 15 und 59 Jahre alt. Die Folge ist, dass Kuba vergreist.

China und Russland gewinnen an Einfluss auf Kuba – USA besorgt

Nach Angaben der Vereinten Nationen leben Kubaner derzeit in 140 Ländern der Welt. Die Vereinigten Staaten führen die Liste mit großem Abstand an, gefolgt von Spanien, Italien, Mexiko und Kanada. Laut Albizu-Campos sind die USA zwar in vielen Fällen das endgültige Ziel. Da das aber schwierig zu erreichen ist, stranden Hunderttausende woanders. Allein in Mexiko haben Angaben der Flüchtlingshilfe COMAR zwischen Januar und Juni knapp 9000 Kubanerinnen und Kubaner Zuflucht gesucht. Selbst im so fernen südamerikanischen Uruguay beantragten 4000 Menschen Hilfe und Unterstützung. 

Ein Straßenverkäufer fährt mit seinem Fahrrad an dem russischen Übungsschiff „Smolny“ vorbei, das in der Bucht von Havann einläuft.
Ein Straßenverkäufer fährt mit seinem Fahrrad an dem russischen Übungsschiff „Smolny“ vorbei, das in der Bucht von Havann einläuft. © DPA Images | Ramon Espinosa

Die Wirtschaftskrise beschleunigt zwei Trends. Erstens verliert die kommunistische Regierung die allumfassende Kontrolle über das Land. Das bedeutet nicht, dass das Regime kurz vor dem Sturz steht. Aber die Menschen haben die jahrzehntelange eingeübte Angst vor dem kommunistischen Staatsapparat verloren. Und den Respekt.

Kuba: Strahlkraft der Garde der alten Revolutionäre ist erloschen

Spätestens seit Fidel Castro 2016 starb und sein Bruder Raúl, heute 93 und gesundheitlich angeschlagen, sich 2021 aus dem politischen Tagesgeschäft zurückgezogen hat, ist die Strahlkraft der Garde der alten Revolutionäre erloschen. „Wir sind alle hier, um Revolution und Sozialismus zu retten“, sagte Nachfolger Diaz-Canel im Juli. Doch die Menschen wollen alles, aber keine Fortführung dieses Sozialismus. 

Russische Militärschiffe machen in Kuba fest

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    Aber statt nach vietnamesischem oder chinesischem Vorbild mehr Kapitalismus in der Wirtschaft zuzulassen, nähert sich Havanna in einem weiteren Trend stärker an China und Russland an. Diese wachsenden wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Beziehungen besorgen mittlerweile auch die US-Regierung. Die Chinesen bauen laut dem „Center for Strategic and International Studies“ (CSIS) möglicherweise Abhörsysteme auf Kuba – und Moskau zeigt militärische Präsenz. Mitte Juni hielten mehrere russische Kriegsschiffe vor der Küste der Insel eine Militärübung ab.

    Derweil haben die Menschen wenig Hoffnung auf einen Wandel. Ein Sturz des kommunistischen Systems ist nicht sehr wahrscheinlich, zumal es der Opposition an Struktur, Programm und vor allem an Köpfen fehlt. Also bleibt nur die Auswanderung. Wenn Kuba keine Insel wäre und Grenzen hätte, wäre bald niemand mehr da.