Berlin. Militärexperte Masala über die Dynamik dieses Überraschungsangriffs und die Strategie des ukrainischen Präsidenten Selenskyj.
Der Überraschungsangriff der Ukraine auf Russland könnte das Bild auf diesen Krieg verändern, sagt Militärexperte Carlo Masala. Doch man müsse realistisch sein. Russland zieht seine Truppen gerade erst in Kursk zusammen.
Der Überraschungsangriff der Ukraine auf Russland liegt jetzt mehr als eine Woche zurück: Ist inzwischen klar, welche Strategie der ukrainische Präsident Selenskyj verfolgt?
Wenn man Selenskyjs eigene Worte zugrunde legt, geht es darum, Territorium zu halten, um es als mögliches Faustpfand mit Blick auf einen späteren Gebietsaustausch zu haben und eine Pufferzone zwischen Russland und der Ukraine zu schaffen. Ob das die wirkliche Strategie ist, die die Ukraine verfolgt, lässt sich nicht sagen.
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Will die Ukraine auch das Atomkraftwerk Kursk erobern und unter ihre Kontrolle bringen?
Ja, das könnte ein Nebenaspekt sein, wobei wir jetzt sehen, dass die territoriale Ausbreitung der Ukrainer wegen des russischen Widerstandes ins Stocken gerät. Es geht nicht mehr so voran, wie in den ersten fünf oder sechs Tagen.
Warum gelingt es Russland bislang nicht, die Frontlinie bei Kursk zu stabilisieren?
Die Russen müssen zunächst einmal ihre Reserven zusammenziehen und Artillerie heranführen – sie müssen also in Masse Leute und Gerät in das Gebiet bringen. Das machen sie gerade. Aber die Frage ist, wie lange wird es dauern und welche Probleme stellen sich dabei.
Wird Russland dafür Truppen aus dem umkämpften Donbass abziehen?
Ja, es gibt Anzeichen dafür, aber das wird wohl nicht massiv und nicht von langer Dauer sein. Sie sind näher an Kursk dran. Die anderen Soldaten, die aus Russland kommen, müssen weitere Wege zurücklegen. Die russische Operation im Donbass wird das aber nach meiner Einschätzung nicht massiv beeinflussen. Putin wird parallel vorgehen wollen: im Donbass, den Krieg gegen die Ukraine führen und sich das Gebiet, das die Ukraine in Russland erobert hat, zurückholen.
Carlo Masala
Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.
Die Wahrnehmung dieses Krieges hat sich verändert, das Momentum ist auf der Seite der Ukraine. Kann der Angriff diesen Krieg verändern?
Das lässt sich derzeit noch nicht sagen. Vieles hängt davon ab, was jetzt in Kursk passiert. Wenn es den Ukrainern gelingt, den russischen Kräften auf russischem Boden, massive Verluste beizubringen beim Versuch, Kursk zurückzuerobern, dann besteht zumindest die Möglichkeit, dass sich in Russland das Bild dieses Krieges verändert. Aber man muss realistisch sein. Es kann genauso sein, dass die Russen das Gebiet zurückerobern. Dann wendet sich das Blatt eher gegen die Ukraine. Zurzeit hat die Ukraine das Narrativ gedreht. Sie zeigt, sie kann Angriffs- und Überraschungsoperationen – also alles, was im Krieg wichtig ist. Was das für konkrete Auswirkung dauerhaft haben wird, entscheiden die nächsten Tage und Wochen.
Könnte die Stimmung in Russland kippen?
Nein, soweit würde ich nicht gehen. Alle wollen immer irgendetwas kippen sehen. Aber der Krieg wird für die Menschen in Russland jetzt erlebbar, die Russen müssen aus Kursk fliehen. Das hat eine ganz andere Dynamik, als wenn sie den Krieg nur als einen Krieg im „Ausland“ aus der Ferne mitbekommen.
Selenskyj fordert verstärkt die Erlaubnis von seinen westlichen Partnern, auch weiter reichende Raketen auf russischem Gebiet einsetzen zu dürfen. Zu Recht?
Der Wunsch ist nachvollziehbar. Aber ob man ihm die Erlaubnis erteilen sollte, ist eine politische Frage. Ich ganz persönlich würde sie ihm erteilen, aber politisch wird das anders gesehen. Die Erlaubnis wird nicht kommen. Es gibt Hinweise, dass die Ukrainer die Regierung in Großbritannien um Erlaubnis gebeten haben, die Marschflugkörper „Storm Shadow“ einsetzen zu dürfen und die Briten das abgelehnt haben. Die westlichen Verbündeten haben keinerlei Interesse an einer möglichen russischen Eskalation und an einem möglichen Kollaps Russlands. Das begrenzt die ukrainische Kriegsführung.
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Ein Blick auf die andere Konfliktregion: Russland hat versucht, den Iran von einem Vergeltungsangriff auf Israel abzubringen. Warum?
Er könnte zu einer unkontrollierbaren Eskalation im Mittleren und Nahen Osten führen. Die Russen haben dort ihre eigenen Interessen. Sie haben ihre Marinebasis in Syrien und haben mit Sicherheit kein Interesse daran, dass ihr wichtigster Verbündeter in der Region – Iran – in dieser Auseinandersetzung entscheidend geschwächt wird.
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