Berlin. SPD-Fraktionschef Mützenich kritisiert eine sicherheitspolitische Weichenstellung von Kanzler Scholz – und sagt, wie hart das neue Bürgergeld wird.

Herr Mützenich, die Ampel-Regierung hat sich darauf verständigt, das Bürgergeld praktisch abzuschaffen. Warum macht die SPD das mit?

Rolf Mützenich: Das Bürgergeld wird nicht abgeschafft, sondern fortentwickelt. Es geht vor allem darum, mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Dazu braucht es sinnvolle Maßnahmen, um die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, und eine maßvolle Sanktionstreppe.

Die neuen Regeln sind teilweise härter als Hartz IV: Wer Termine beim Jobcenter versäumt, muss mit einer Kürzung des Regelsatzes um 30 Prozent rechnen. Und für einen neuen Job soll ein Arbeitsweg von drei Stunden zumutbar sein. Wollte die SPD nicht das Hartz-System überwinden?

Dabei bleibt es auch. Wir werden uns im Bundestag genau anschauen, was von der Regierung vorgeschlagen wird.

Das heißt, Sie wollen den Kabinettsbeschluss noch entschärfen. 

Wir werden das, was die Bundesregierung zum Bürgergeld einbringt, mit eigener Expertise und mit Sachverständigen beleuchten. Da fließen sowohl die Erfahrungen aus den Wahlkreisen als auch wissenschaftliche Erkenntnisse ein. Ich würde mich sehr stark an den Erfordernissen der Praxis orientieren. Was wir im Bundestag zum Bürgergeld beschließen, wird mehr und anderes umfassen, als die Regierung vorgeschlagen hat.

Geht es in Wahrheit darum, der Union das wichtigste Wahlkampfthema – die Abschaffung des Bürgergeldes – zu nehmen?

Das Bürgergeld eignet sich nicht als Wahlkampfthema. Gute Arbeit soll gut entlohnt wird. Das Bürgergeld ist eine Brücke in den Arbeitsmarkt, die wir stabiler machen wollen.

Was wird aus dem anderen sozialpolitischen Großprojekt der Ampel, der Kindergrundsicherung?

Es wird noch in dieser Wahlperiode einen Einstieg in die Kindergrundsicherung geben. Dabei geht es vor allem um strukturelle Maßnahmen. Diejenigen, die auf eine Grundsicherung für ihre Kinder angewiesen sind, sollen im teils unübersichtlichen Verwaltungssystem den Pfad zur Unterstützung leichter finden.

Bringt die Kindergrundsicherung auch höhere Leistungen für arme Kinder? 

Wir haben das Kindergeld vor zwei Jahren deutlich erhöht und erhöhen es noch mal. Auch der Kinderfreibetrag wird angepasst. Es geht aber im Sozialstaat nicht immer darum, die Mittel zu erhöhen. Wichtig ist auch, dass diejenigen, die auf Leistungen angewiesen sind, um diese Mittel wissen und sie dann auch bekommen. 

Die FDP argumentiert, eine Ausweitung der Leistungen würde die Kinderarmut verschlimmern – weil es für die Eltern dann weniger interessant sei zu arbeiten …

Diese Sichtweise gibt es leider bei der FDP, weil sie sich in diesen Bereichen wenig auskennt. In meinem Wahlkreis begegnen mir alleinerziehende Mütter, die gerne arbeiten würden. Es scheitert aber oft an den notwendigen Betreuungsmöglichkeiten. Ich würde jedem raten, nicht die Betroffenen zu diskriminieren, sondern die Bedingungen für sie zu verbessern. Dann haben alle davon einen Mehrwert: die Arbeitssuchenden wie die Gesellschaft.

Nach der Einigung der Ampel-Spitze auf den neuen Haushalt haben Sie die FDP vor „Triumphgeheul“ gewarnt. Für Ihre Verhältnisse war das fast ein Wutausbruch. Was hat Sie so geärgert? 

Das Einzige, was die FDP in diesen Haushaltsverhandlungen interessiert hat, war das starre, ideologische Festhalten an der Schuldenbremse, ohne deren Ausnahmen zu nutzen. Das ist angesichts der großen Herausforderungen etwas wenig. Ich rate dringend dazu, dass sich die Koalition auf das konzentriert, was notwendig ist. Man kann nicht die Unterstützung der Ukraine gegen Investitionen in die Infrastruktur und in die Menschen ausspielen. Das haben leider nicht alle verstanden.

Ist bei der Schuldenbremse das letzte Wort gesprochen?

Wir werden genau hinschauen, ob der Entwurf der Bundesregierung finanz- und verfassungsrechtlich tragfähig ist – oder ob man einen Überschreitungsbeschluss im Rahmen der Schuldenbremse treffen muss. Die Möglichkeit, eine Haushaltsnotlage zu erklären, nehmen wir nicht vom Tisch. Es ist ja kein Selbstzweck – es geht darum, unser Land für die Zukunft in Schuss zu bringen.

Liegt auch eine Änderung des Grundgesetzes auf dem Tisch?

Wir brauchen eine emotionslose Diskussion über die Schuldenregel. Auf allen staatlichen Ebenen und in fast allen Parteien – auch bei nahezu allen Ökonomen – setzt sich die Erkenntnis durch, dass wir das Grundgesetz ändern und die Schuldenregel reformieren müssen, wenn wir notwendige Investitionen in unser Land tätigen wollen. Ich hoffe, dass das auch irgendwann bei der FDP ankommt.

Sparen will die Ampel ausgerechnet bei der Bundeswehr, Verteidigungsminister Boris Pistorius soll fünf Milliarden weniger bekommen als gefordert. Wird das der Bedrohungslage gerecht?

Insgesamt geben wir weit über 70 Milliarden Euro für Verteidigung aus. Wir steigern damit die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr. Dass sich jeder Minister für sein Ressort mehr vorstellen könnte, ist klar. Aber deswegen sollte niemand seine großen Leistungen kleinreden.

Tut Pistorius das?

Der vorliegende Haushaltsentwurf ist ein Beschluss des gesamten Kabinetts. Jedes Ressort hat an dem Zustandekommen seinen Anteil, wobei der Verteidigungsetat sogar steigt. Aus der Reihe tanzen geht nicht. Allerdings kann ich den Ärger insofern verstehen, als dass uns ein Überschreitungsbeschluss mehr Luft verschafft hätte.

Verlassen Sie sich darauf, dass Donald Trump uns vor Russland schützt, wenn er wieder ins Weiße Haus einzieht?

Unabhängig davon, wie die Präsidentschaftswahlen in den USA ausgehen werden: Europa muss innerhalb der Nato stärker auf eigenen Füßen stehen. Europa gibt viel für seine Verteidigung aus. Leider werden nicht alle Mittel effektiv genutzt. Und die Nato hat schon viele Krisen überstanden. Selbst wenn es dazu kommen sollte, dass die Amerikaner Präsident Trump erneut ins Amt wählen: Die USA wissen genau, dass sie ihren Weltmachtanspruch nicht ohne Europa geltend machen können.

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Das ist Wunschdenken.

Ich mache mir keine Illusionen, schon gar nicht, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht. Wir sollten nicht nur einen Diktatfrieden des russischen Präsidenten Putin verhindern, sondern auch ein Diktat eines amerikanischen Präsidenten Trump, wenn es überhaupt dazu kommt. Es droht, dass wir uns zwischen diesen beiden schlechten Optionen wiederfinden. Deshalb plädiere ich seit Langem dafür, zusätzlich zur umfänglichen Unterstützung der Ukraine eine eigenverantwortliche Debatte zu führen, um abseits des Schlachtfelds Wege zu einem Ende der Kämpfe zu finden. Ich finde es daher klug und mutig, dass auch der ukrainische Präsident Selenskyj das in diesen Tagen vorantreibt.

Springt Deutschland in die Bresche, wenn die USA ihre Unterstützung für die Ukraine einstellen? 

Diese Frage wird sich dann stellen. Dabei muss man sehen, dass wir schon sehr viel leisten: Waffenhilfe, finanzielle Hilfe, humanitäre Hilfe. In Europa stehen wir da an der Spitze.

Schließen Sie aus, dass Deutschland auch Marschflugkörper und Kampfflugzeuge in die Ukraine liefert?

Wir dürfen nicht militärisch in diesen Krieg verwickelt werden. Es geht darum, besonnen über die Lieferung von Rüstungsgütern zu entscheiden – und nicht Politikern zu folgen, die plötzlich jede Schraube in einem Panzer zu kennen meinen.

Warum sollte Deutschland plötzlich Kriegspartei werden? Wir liefern auch Kampfpanzer, ohne uns in den Krieg zu verwickeln.

Solche Entscheidungen muss der Bundeskanzler treffen. Und ich teile seine Abwägungen.

Der Kanzler will zulassen, dass amerikanische Raketen mit erheblicher Reichweite in Deutschland stationiert werden. Wie finden Sie das?

Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine verbessern, aber wir dürfen die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden. Die Raketen haben eine sehr kurze Vorwarnzeit und eröffnen neue technologische Fähigkeiten. Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ist beträchtlich.

Wollen Sie sagen, die US-Raketen machen Deutschland unsicherer?

Ich will die Bedrohung durch Russland überhaupt nicht ignorieren. Gleichwohl verfügt die Nato auch ohne die neuen Systeme über eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit. Mir erschließt sich auch nicht, warum allein Deutschland derartige Systeme stationieren soll. Unter Lastenteilung habe ich bisher etwas anderes verstanden.

Verlangen Sie ein Mitspracherecht des Bundestages?

Das wird es in diesem Fall nicht geben. Ich würde mir aber wünschen, dass die Bundesregierung ihre Entscheidung einbettet in Angebote zur Rüstungskontrolle. Helmut Schmidt hat das in der Nachrüstungsdebatte auch so gehalten. Wir sollten – natürlich nach Beendigung des Ukraine-Krieges – Gelegenheiten nutzen, eine Rüstungsspirale zu verhindern, aus der der es irgendwann kein Entrinnen mehr gibt. 

Sie haben vor einigen Jahren den Abzug der verbliebenen amerikanischen Atomsprengköpfe aus Deutschland gefordert. Sind Sie immer noch dafür?

Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass gerade diese Form der atomaren Abschreckung sicherheitspolitisch keinen Sinn macht. Die Vorstellung, dass Sprengköpfe mit Flugzeugen zu einem gegnerischen Ziel gebracht werden, scheint mir etwas aus der Zeit gefallen. Mir ist klar, dass der Abzug der amerikanischen Atomsprengköpfe in der Nato gegenwärtig nicht mehrheitsfähig ist. Aber wir sollten das Ziel nicht aus den Augen verlieren.

In gut einem Jahr wird ein neuer Bundestag gewählt. Ist es ausgemachte Sache, dass die SPD wieder mit Olaf Scholz als Kanzlerkandidat in den Wahlkampf zieht?

Olaf Scholz war nicht nur ein erfolgreicher Kandidat, sondern hat gezeigt, was er in diesem Amt kann. Ich bin mir sicher, dass die Wählerinnen und Wähler weiter großes Vertrauen in Olaf Scholz haben. Vor allem dann, wenn sie sich die Alternativen anschauen und Olaf Scholz nach dem Beschluss über den Haushalt freier auftreten kann.

Sie plädieren für Scholz, obwohl die SPD – das zeigen Umfragen – mit Verteidigungsminister Pistorius bessere Aussichten hätte?

Ich richte mich nicht nach Momentaufnahmen der politischen Stimmung. Die Menschen brauchen jemanden, der dieses Land durch ganz verschiedene Herausforderungen führt. Und das ist Olaf Scholz.