Hamburg. Vor 80 Jahren scheiterte Stauffenbergs Attentat auf Adolf Hitler. Der Zeitzeuge und SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi erinnert sich.
Eine Villa in Hamburg unweit der Alster: Der 96-jährige Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi empfängt zum Gespräch über den Widerstand gegen die Nationalsozialisten und die Lehren für die heutige Zeit. Seine Familie spielte eine herausragende Rolle im Widerstand. An diesem Samstag jährt sich zum 80. Mal das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler im Führerhauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen. Die Bombe, deponiert vom Wehrmachtsoffizier Claus von Stauffenberg, explodierte zwar. Ein massiver Schreibtisch schirmte den Diktator jedoch ab, Hitler überlebte leicht verletzt. Von Dohnanyi, in den 1980er Jahren Erster Bürgermeister in Hamburg und Anfang der 1970er Jahre Bundesminister unter Kanzler Willy Brandt, ist Zeitzeuge.
Herr von Dohnanyi, als am 20. Juli 1944 Claus Schenk Graf von Stauffenberg mit dem Versuch scheiterte, Adolf Hitler in die Luft zu sprengen, waren Sie 16 Jahre alt. Wie würden Sie einem Teenager von heute die Bedeutung dieses Datums erklären?
Klaus von Dohnanyi: Der 20. Juli ist weiteres ein Beispiel dafür, wie viel Mut es braucht, in einer brutalen Diktatur wie der Naziherrschaft aktiven Widerstand zu leisten. Mein Vater hatte etwa ein Jahr zuvor eine Bombe nach Smolensk gebracht, dort wurde sie in Hitlers Flugzeug geschmuggelt, aber der Zünder funktionierte offenbar wegen der großen Kälte nicht. Auch Stauffenberg konnte Hitler ja nicht töten, immer wieder entging Hitler den Anschlägen auf sein Leben. Und eines ist mir wichtig: Wir dürfen über dem Attentat von Stauffenberg nicht die vielen anderen Fälle vergessen, die Zeichen von Mut und Zivilcourage waren.
Haben Sie den Eindruck, dass die Erinnerung an den 20. Juli verblasst?
Die Zeit zieht natürlich darüber hinweg, die Menschen haben heute andere Dinge vor den Augen. Das liegt in der Natur der Sache und betrifft auch so bedeutende historische Ereignisse wie den 20. Juli 1944. Wer heute 50 Jahre alt ist, kann sich vermutlich noch gut an den 9. November 1989 erinnern, den Tag, an dem in Berlin die Mauer fiel. Wer aber erst 20 oder 30 ist, kennt sogar dieses Datum nur vom Hörensagen. Ich habe den 20. Juli 1944 persönlich erlebt, und so bleibt dieser Tag für mich unvergesslich.
Wird der Begriff „Widerstand“ in der Politik inflationär benutzt?
Diesen Eindruck habe ich gelegentlich; man macht es sich damit zu leicht. Wenn ein Schüler seinen Lehrer nicht mag und in der Klasse frech wird, leistet er dann schon „Widerstand“? Wir sollten sorgsam mit diesem Wort umgehen. Irgendwie möchte ich, dass mit diesem Wort auch der Begriff des Mutes verbunden bleibt. Eine andere Meinung zu haben und zu äußern, ist noch kein Widerstand. Politischer Widerstand beinhaltet nach meinem Verständnis immer auch Mut und die Bereitschaft auch zu einem gewissen persönlichen Risiko.
Die radikalen Klimaschützer der Letzten Generation sagen auch: Wir leisten Widerstand. Was entgegnen Sie denen?
Ich würde gerne sagen: Ich kann euch verstehen. Eure Zukunft wird langsam, aber sicher erstickt, von uns allen, auch von euch selbst: Unsere gemeinsame Art zu leben ist für unseren blauen Planeten nicht verträglich! Und dann finde ich es problematisch, dafür Straßen zu blockieren. Denn oft müssen ja auch die Polizei und der Rettungswagen durch und all die friedlichen Leute, die einfach nur zur Arbeit fahren. Für mich ist das eine zu weite Interpretation des Begriffs Widerstand.
Ihre Eltern Hans und Christine waren führende Personen im Widerstand gegen Hitler, ebenso Ihr Onkel, der Theologe Dietrich Bonhoeffer. Ihr Vater und Bonhoeffer wurden kurz vor Kriegsende von den Nazis hingerichtet. Wie hat all das Ihr Leben beeinflusst?
Bonhoeffer und mein Vater, meine Mutter, letztlich die ganze Familie waren seit den 1930er Jahren in der Opposition gegen Hitler, auch indem sie verfolgten Menschen halfen, Juden retteten und auf diese Weise in bösen Zeiten das Leben anständiger Menschen führten. Dieses Vorbild anständig zu leben in wirklich bösen Zeiten hat uns Kinder natürlich für immer geprägt.
Inwiefern?
Mein Vater Hans von Dohnanyi schrieb in einem Brief aus der Haft an meine Mutter: „Es war doch eigentlich nur der Weg eines anständigen Menschen.“ Das war ein Schlüsselsatz. Meine Eltern wollten anständige Menschen sein, auch ihre Kinder sollten es werden. Meine Eltern haben Juden gerettet und politisch Verfolgten geholfen. In Erinnerung daran habe ich dann als Bürgermeister von Hamburg eine Stiftung für politisch Verfolgte geschaffen.
Waren Ihre Eltern Demokraten?
In der Weimarer Republik standen sie den Liberalen nahe. Claus von Stauffenberg hingegen war eher nationalkonservativ, aber es gab eben auch Kommunisten und Sozialdemokraten im Widerstand. Das Gemeinsame war immer die Empörung gegen die brutale Tyrannei der Nazis.
Wenn Sie jetzt mit Ukrainern sprächen – sei es Politikern, Soldaten oder Zivilisten – würden diese sagen: Wir leisten Widerstand gegen Wladimir Putins Tyrannei. Was wäre Ihre Replik?
Diese Position kann ich aus ukrainischer Sicht nachvollziehen, aber ob es in der Ukraine selbst demokratische Toleranz gibt, wagt ja mancher zu bezweifeln. Zugleich sage ich: Auch im Widerstand muss Vernunft gelten. Ich halte es für dringend notwendig, über einen Waffenstillstand und politische Lösungen des Konfliktes nachzudenken.
Warum?
Weil ich der Meinung bin, dass die Ukraine durch den Krieg zerstört wird. Es ist heute eigentlich ein Stellvertreterkrieg gegen Russland im Auftrag der USA. Wenn ich dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj einen Rat geben könnte, den er vermutlich nicht befolgen würde, dann wäre das: Geh‘ auf Putin zu und versuche eine Lösung zu finden, die aus zwei Bausteinen besteht.
Aus welchen?
Erstens: Die Ukraine kommt nicht in die Nato. Zweitens: Wir müssen über alle Landgewinne, die Russland gemacht hat, verhandeln. Die Ukraine ist ein zusammenhängender Staat inklusive Krim und Donbass, da können nicht einzelne Teile abgeschnitten werden. Kurzum, ich würde Herrn Selenskyj raten, für eine Lösung auch russische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.
Sie sind seit fast 70 Jahren SPD-Mitglied. Wie blicken Sie heute auf die Kanzlerpartei?
In der Geschichte der SPD gab es immer zwei Wurzeln, aus denen die Partei ihre Kraft zog. Das waren die Friedenspolitik und die Sozialpolitik. Seitdem die SPD die Wurzel Friedenspolitik abgehackt hat, verdient sie zu Recht keine besseren Wahlergebnisse, als sie heute bekommt. Friedenspolitik besteht nämlich nicht darin, dass man auf Wehrhaftigkeit verzichtet. Das hat auch Willy Brandt so gesehen. Aber sie besteht darin, dass man die Interessen der anderen Seite erkennt, den Zugang zu ihr nicht verbaut und trotz aller Widrigkeiten einen Interessensausgleich sucht.
Teilen Sie die Kritik von ganz links und ganz rechts, dass Kanzler Olaf Scholz mit der Unterstützung der Ukraine genau das Falsche mache?
Lassen Sie es mich so formulieren: In der SPD kritisiert so gut wie niemand, dass der Kanzler nur für Kanonen wirbt und nicht zugleich auch für Verhandlungen. Ich bedauere das sehr. Deshalb unterstütze ich Sahra Wagenknecht, weil sie für Verhandlungen mit Russland eintritt. Dafür bin ich auch. Das Blutvergießen an der Ostgrenze der Ukraine muss enden.
Sie scheinen sehr mit Ihrer SPD zu hadern.
Das Wort „hadern“ ist eigentlich nicht ausreichend. Ich bin der Meinung, dass die SPD gerade dabei ist, sich selbst zu verraten.
Denken Sie über einen Parteiaustritt nach?
Nein. Die SPD muss mich ertragen – so wie ich sie ertrage.