Berlin. Verantwortung, Mitgefühl und Mut: Warum soll man sich heute an den gescheiterten Versuch erinnern sollte, Adolf Hitler zu töten.

Der 20. Juli ist ein sperriger Tag. Von einem „Stachel im Fleisch der Nachkriegsgesellschaft“ spricht die Historikerin Ruth Hoffmann – und der schmerzt noch heute, 80 Jahre nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler. Als 2018 nach einem Feiertag für Berlin gesucht wurde, kam der Tag, der längst für alle Widerstandsgruppe im Nationalsozialismus steht, nicht einmal in die engere Wahl; der zeitgeistigere Weltfrauentag machte das Rennen. Ganz offensichtlich erinnern sich die Deutschen nur ungern daran, dass es in der Diktatur Menschen gab, die ihrem Gewissen folgten und anders handelten als die übergroße Mehrheit – es spiegelt allzu hart das Verhalten ihrer eigenen Eltern und Großeltern.

Zudem können viele derjenigen, die im militärischen oder zivilen Bereich am Zustandekommen des Attentats beteiligt waren, im unerbittlichen Urteil der Nachgeborenen nicht bestehen. Es stimmt: Nicht alle Widerständler waren Demokraten, manche hatten Schuld auf sich geladen und brauchten lange, bis sie sich zum Widerstand entschieden und auch das Verhältnis zu Juden, Polen und gesellschaftlichen Minderheiten war nicht frei von Ressentiments.

Für einen Heldenkult eignen sich viele Widerständler nicht; viel zu menschlich-widersprüchlich, viel zu sehr in ihrer Zeit und ihren Milieus verhaftet waren sie. Als Vorbilder taugen sie aber sehr wohl. Gerade in Zeiten, in denen extremistische Parteien einen enormen Zulauf erleben und demokratische Parteien hilflos wirken, in denen Deportationsfantasien offen geäußert werden und Juden in Deutschland wieder Angst haben, können wir viel von ihnen lernen. Denn die Männer und Frauen des Widerstands verkörperten Haltungen, die für eine demokratische, freiheitliche Gesellschaft auch heute noch lebenswichtig sind.

Manifest von Nachfahren: Warum der 20. Juli 1944 uns alle angeht

Das Recht schützen. „Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts“ heißt es in der für den Tag des Umsturzes formulierten Regierungserklärung, die Carl Friedrich Goerdeler und Ulrich von Hassell verfasst hatten. Der Zerfall des Rechtsstaats war für die Menschen, die sich im Widerstand des 20. Juli zusammenfanden, der Beginn allen Übels, seine Wiederherstellung ihr oberstes Ziel. Wir sollten das als Auftrag verstehen, allen Einschränkungen des Rechtsstaats gegenüber wachsam zu sein. Wir leben in einer Demokratie, in der alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, für Veränderungen zu streiten, Mehrheiten für ihre Ziele zu suchen und sich für die Entwicklung unserer Gesellschaft zu engagieren. Ja, das ist anstrengend und erfordert Mut. Aber es ist die Voraussetzung dafür, dass wir in Freiheit leben können. Wir sollten uns mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass das so bleibt.

Der deutsche Offizier und spätere Widerstandskämpfer Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Jahr 1940 mit seinen Kindern Berthold, Franz Ludwig und Heimeran.
Der deutsche Offizier und spätere Widerstandskämpfer Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Jahr 1940 mit seinen Kindern Berthold, Franz Ludwig und Heimeran. © picture-alliance / dpa | dpa

Sich der Realität stellen. Manche der späteren Widerstandskämpfer haben lange gebraucht, um den geschickt von der nationalsozialistischen Propaganda über das Land gelegten Nebel aus Halbwahrheiten, Fake News und gezielter Manipulation zu durchdringen. Früher oder später erkannten sie aber alle den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes – weil sie ihre Augen nicht verschlossen und bereit waren, sich der Realität zu stellen. Mit den sozialen Medien haben sich die Möglichkeiten zur Demagogie und Manipulation potenziert. Eine Lüge, so zeigen Studien, verbreitet sich sieben Mal so schnell und häufig im Netz wie die differenzierte Darstellung einer Situation. Das öffnet den Feinden der Freiheit, die Chaos und Unruhe stiften wollen, damit die Menschen sich nach autoritären Verhältnissen sehnen, Tür und Tor.

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Es ist unser Auftrag, nie nachzulassen, die Wahrheit zu suchen und die Menschen so zu bilden, dass sie die Realität erkennen. Dietrich Bonhoeffer, als Theologe aktiv im Widerstandkreis um Wilhelm Canaris und Hans Oster, hat zum Jahreswechsel 1942/43 sehr eindrücklich das Phänomen der Realitätsverweigerung beschrieben. Er bezeichnet sie als Dummheit, die er für einen menschlichen, nicht einen intellektuellen Defekt hält: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse lässt sich protestieren, es lässt sich bloßstellen, es lässt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurücklässt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten, Gründe verfangen nicht. Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch –, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich zufrieden: ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht, daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen.“

Der NS-Widerstandskämpfer und Pazifist Dietrich Bonhoeffer (1906-1945, undatierte Aufnahme).
Der NS-Widerstandskämpfer und Pazifist Dietrich Bonhoeffer (1906-1945, undatierte Aufnahme). © picture-alliance/ dpa | dpa

Gemeinschaften bilden. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus basierte auf freundschaftlicher, kollegialer und verwandtschaftlicher Bindung. Offenbar sind es gerade lange gewachsene, verlässliche menschliche Bindungen, die helfen, einen Blick zu wahren für richtig und falsch, Recht und Unrecht, gut und böse. Das ist auch heute noch so. Aus verlässlichen Gemeinschaften wächst eine Kraft und auch Verantwortung zum Widerspruch und letztlich auch zum Widerstehen. Peter Graf Yorck von Wartenburg, der Mitbegründer des Kreisauer Kreises, empfand dieses Verpflichtung stark: „Wenn wir uns einbilden, etwas ähnliches wie eine Elite zu sein, oder eine Führungsaufgabe zu haben, dann haben wir versagt und zwar dem einfachen Manne, dem Arbeiter gegenüber, denn sonst hätte das Dritte Reich nicht passieren dürfen. Wir haben eine Schuld gutzumachen am deutschen Arbeiter, deshalb müssen wir dieses Regime beseitigen.“

Verantwortung übernehmen. Eine Grundüberzeugung zieht sich durch alle Schriften und Aussagen der Männer und Frauen des Widerstands: Nicht Einzelinteressen, sondern dem Gemeinwohl muss Politik und letztlich das menschliche Handeln überhaupt dienen. Dabei dürfe es „keinen Stand“ geben, der, wie der Mitbegründer des Freiburger Widerstandskreises Gerhard Ritter es formuliert hat, „grundsätzlich auszuschließen wäre von der Mitverantwortung am Staat und von der Erziehung zum Staat“. Es war vor allem der nationalsozialistische Verrat am Gemeinwohl, der die Zivilisten und Militärs in den Kreisen des 20. Juli zur Arbeit gegen das Regime motivierte. So weltfremd es heute klingen mag, so wahr bleibt es: Ohne die Bereitschaft des Einzelnen, Verantwortung für das Ganze zu übernehmen, kann eine Demokratie nicht funktionieren. Die Männer und Frauen des 20. Juli handelten genau aus dieser Bereitschaft heraus. „Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem namenlosen Elend zu bewahren“, so Fritz-Dietlof von der Schulenburg, der eine wichtige Rolle als Mittler zwischen dem zivilen und dem militärischen Widerstand einnahm, „ich bin mir klar, dass ich daraufhin gehängt werde, bereue meine Tat aber nicht und hoffe, dass sie ein anderer in einem glücklicheren Moment durchführen wird.“

Das Ehrenmal der Opfer des 20. Juli 1944 von Richard Scheibe im Hof des Bendlerblocks, dem heutigen Sitz des Bundesverteidigungsministeriums.
Das Ehrenmal der Opfer des 20. Juli 1944 von Richard Scheibe im Hof des Bendlerblocks, dem heutigen Sitz des Bundesverteidigungsministeriums. © picture alliance / Schoening | Schoening

Mitgefühl zulassen. Die Haltung der Widerstandskämpfer zu gesellschaftlichen Minderheiten war ein Abbild der damaligen Gesellschaft: Es gab vorurteilsfreie Köpfe genauso wie rassistisches Gedankengut. Eines war aber fast allen gemeinsam: Mit der Ausgrenzung und Verfolgung gesellschaftlicher Minderheiten regte sich ihr Mitgefühl, das sich häufig in aktiver Unterstützung für die Opfer äußerte. „Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Haltungen“, schrieb Dietrich Bonhoeffer und benennt damit eine Haltung, die uns auch heute angeht: In der Stunde höchster Bedrohung kommt es auf Mitgefühl an, auf Mitmenschlichkeit, tatkräftige Unterstützung und Rettung von Leben – gleichgültig, welcher Herkunft, welchen Geschlechts oder welcher Orientierung der oder die Verfolgte ist. Alle anderen Erwägungen haben vor der Mitmenschlichkeit zurückzutreten.

Mut wagen. Wenn niemand bereit ist, für die Freiheit Opfer zu bringen, haben die Feinde der Freiheit leichtes Spiel. Auch das ist eine Lehre aus dem 20. Juli 1944. Es braucht Menschen, die bereit sind, sich gegen Ungerechtigkeit und für ethische Werte einzusetzen und dabei auch Existenzielles aufs Spiel zu setzen. Zivilcourage ist nicht nur wichtig in der Politik, sondern auch im Beruf, der Gemeinde, dem Verein. „Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft“, sagte Claus Schenk Graf von Stauffenberg wenige Tage vor dem Attentat, „es muss geschehen. Denn dieser Mann ist das Böse an sich.“

Es ist an uns, aus dem Erbe des Widerstands etwas zu machen: Gegen „einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit und der mangelnden Ehrfurcht vor anderen, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten“ anzukämpfen, wie es der Kreisauer Kopf Helmuth James Graf von Moltke formuliert hat, und einzutreten für unsere Mitmenschen, das Recht und die freiheitliche Demokratie. Damit Widerstand, wie ihn die Männer und Frauen des 20. Juli 1944 geleistet haben, nie wieder notwendig wird.

Tobias Korenke, Leiter Unternehmenskommunikation der FUNKE Mediengruppe, ist Historiker und Vorstand der Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in Berlin. Sein Großvater Rüdiger Schleicher und die Brüder seiner Großmutter Ursula, Dietrich und Klaus Bonhoeffer, sowie ihr Schwager Hans von Dohnanyi beteiligten sich am Widerstand und wurden in Folge des fehlgeschlagenen Attentats vom 20. Juli 1944 verhaftet und hingerichtet.