Brüssel. Plötzlich betont die Nato ihre atomare Abschreckung. Experten warnen: Atomwaffen spielen eine immer wichtigere Rolle.
Seit Jahren droht und prahlt Russlands Präsident Wladimir Putin mit den russischen Atombomben, angeblich den modernsten weltweit. Die Nato hielt sich lange zurück und schwieg zu ihrer Nuklearbewaffnung, jetzt ändert Nato-Chef Jens Stoltenberg überraschend den Kurs: „Die nukleare Abschreckung der Nato ist unsere ultimative Sicherheitsgarantie“, erklärt der Generalsekretär im Bündnishauptquartier in Brüssel. Er lobt die Modernisierung der Arsenale in den USA, Frankreich und Großbritannien: Die Partner machten Fortschritte bei der „Anpassung der nuklearen Fähigkeiten“ an die Sicherheitslage. Die USA modernisierten ihre Atomwaffen in Europa, in den Niederlanden seien die dafür vorgesehenen F-35-Kampfflugzeuge schon einsatzbereit, berichtet Stoltenberg anerkennend.
Der Ton im westlichen Bündnis ist neu, die Lage auch: Tatsächlich ist nicht nur in Russland und den USA eine umfassende Modernisierung des Atomwaffenarsenals im Gang – alle neun Atomstaaten weltweit versuchen, ihre Arsenale aufzustocken oder die Vernichtungswirkung der Bomben zu erhöhen. Das ist Kern des neuen Jahresreports des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri, der an diesem Montag veröffentlicht wird und unserer Redaktion vorab vorlag. Die alarmierende Bilanz: „Atomwaffen spielen in den internationalen Beziehungen eine so prominente Rolle wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr“, sagt Sipri-Direktor Wilfred Wan.
Neben den beiden Atom-Supermächten setzen also auch Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel ihre Aufrüstung fort. Besonders brisant: Zwar nimmt die Gesamtzahl der weltweit rund 12.100 Atomwaffen leicht ab, weil Amerikaner und Russen weiter alte Sprengköpfe verschrotten. Doch Jahr für Jahr steigt die Zahl jener Bomben, die nicht bloß in Depots lagern, sondern in hoher Alarmbereitschaft sofort einsatzbereit sind – auf ballistischen Raketen montiert oder für Langstreckenbomber vorbereitet. Über den Großteil dieser einsatzbereiten Atombomben verfügen nach Sipri-Schätzungen die USA mit über 1770 Sprengköpfen und Russland mit über 1710, dazu kommen Frankreich mit 280 und Großbritannien mit 120 Sprengköpfen.
Drei Trends alarmieren die Experten – Trend Nummer eins: Russland hat binnen eines Jahres 36 weitere Atomsprengköpfe für den sofortigen Einsatz vorbereitet. Trend zwei: Erstmals hat nun auch China solche nuklearen Sprengköpfe auf Raketen montiert, Sipri schätzt die Zahl auf 24. Chinas Arsenal wuchs innerhalb eines Jahres um 410 auf 500 Raketen und wird weiter ausgebaut – amerikanische Sicherheitsexperten rechnen damit, dass China bis zum Ende des Jahrzehnts bereits über etwa 1000 Atomsprengköpfe verfügt. Dann werde das Land auch so viele Interkontinentalraketen besitzen wie Russland oder die USA, so der Sipri-Report. „China baut sein Arsenal schneller aus als jedes andere Land“, sagt Sipri-Forscher Hans Kristensen.
Trend drei: Es gebe in jedem der neuen Atombombenstaaten Pläne oder Maßnahmen, um die Nuklearstreitkraft zu stärken. Großbritannien habe den Ausbau des Arsenals von 225 auf 260 Sprengköpfe angekündigt, Frankreich investiere in die dritte Generation von Atom-U-Booten, in Marschflugkörper und die Aufrüstung bestehender Systeme. Sorge bereitet Nordkorea: Es verfüge jetzt über etwa 50 Atombomben und habe Material für weitere 40. Nordkorea setze neuen Nachdruck auf die Entwicklung von taktischen Atomwaffen, sagt Sipri-Forscher Matt Korda. „Es gibt eine wachsende Sorge, dass Nordkorea beabsichtigt, diese Waffen sehr früh in einem Konflikt einzusetzen.“
Die mit Abstand größten Arsenale besitzen die USA und Russland, den Gesamtbestand einschließlich ausgemusterter Bomben gibt Sipri mit 5044 für die USA und 5580 für Russland an. Russland hat bereits 95 Prozent der nuklearen Triade aus strategischen Bombern, land- und seegestützten Interkontinentalraketen modernisiert, die Waffen aus Sowjetzeiten sind fast alle ausgemustert – während ein umfassendes Erneuerungsprogramm der USA noch läuft.
Die USA tauschen dabei bis 2026 auch jene etwa 100 Atomwaffen vom Typ B61, die in Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Italien und der Türkei als Teil der nuklearen Teilhabe lagern, gegen die modernste Version B61-12 aus. Darauf spielte Stoltenberg jetzt in Brüssel an. Auf dem deutschen Fliegerhorst Büchel in der Eifel befinden sich etwa 20 dieser Atombomben, die unterirdischen Bunker und den gesamten Standort lässt der Bund derzeit für über eine Milliarde Euro modernisieren – auch als Vorbereitung auf die F-35-Tarnkappenbomber des US-Herstellers Lockheed Martin, die Deutschland kauft, um sich die weitere nukleare Teilhabe zu sichern, wenn die betagten Tornado-Kampfjets der Bundeswehr ausgemustert werden.
Die Nato spricht bislang nur selten über die Atomwaffen. Dass Stoltenberg dies jetzt absichtsvoll ändert, hat viel mit Russland zu tun, aber nicht nur: „Wir sehen in den letzten Monaten und Jahren eine gefährliche Atomrhetorik der russischen Seite“, sagt Stoltenberg und verweist auf die zunehmenden Nuklearmanöver, die Russland zuletzt sehr demonstrativ durchgeführt hatte. Aber: „Wir müssen bedenken, dass wir nicht nur mit nuklearen Herausforderungen durch Russland konfrontiert sind, sondern auch durch China, das derzeit seine Nuklearkapazitäten stark modernisiert.“
China werde in wenigen Jahren über eine große Anzahl auch von Interkontinentalraketen verfügen, die Nato-Territorium erreichen könnten, warnt der Nato-Chef. Hinzu kämen die Atomprogramme Nordkoreas und Irans. Aus all diesen Gründen müsse die Nato klarmachen, dass ihre nukleare Abschreckung „wirksam, sicher und zuverlässig ist“, erläutert der Generalsekretär die veränderte Tonlage: „Und das machen wir deutlich, indem wir modernisieren, üben und kommunizieren, was wir tun.“