Bremen. Selbstverteidigung gegen Messerangreifer? Im Ernstfall hilft nur eine Taktik. Trainer erklären, wie Sie sich im Ernstfall verhalten sollten.
- Nicht erst seit dem Attentat von Solingen wollen sich Menschen vor Angreifern schützen
- Die Nachfrage nach Selbstverteidigungskursen ist große
- Wir haben das Training besucht und gelernt: Nur eine Taktik wirkt wirklich
Auf Arnes Stirn glitzern Schweißperlen. Er ruft laut, energisch: „Halten Sie Abstand! Kein Messer!“ Doch der Angreifer sticht zu. Immer wieder holt er aus, mit dem rechten Arm. Die Klinge schwingt durch die Hallenluft, kommt Arnes Bauch immer wieder zentimeternahe. Arne streckt seine Arme, legt die Hände aneinander, Daumen an Daumen, spreizt die Finger wie zu einem Schmetterling. Arne will den Arm mit dem Messer packen, immer wieder klatscht er an seine Hände. Langsam rötet sich die Haut.
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Irgendwann, nach sieben oder acht Hieben des Gegners, packt Arne zu. Greift den Arm des Angreifers, schiebt ihn vorbei am eigenen Körper, klemmt ihn mit dem Ellenbogen ein. Neben Arne steht Trainer Jens, er ruft: „Du musst richtig rein gehen!“ Dann packt er selbst zu, drischt mit dem Knie auf den Messerangreifer, greift ins Gesicht, kneift, schlägt, stöhnt. „Paammm! Paamm! Du musst alles tun, um zu überleben.“
Pfiff, Übung vorbei. Schweiß abwischen, lächeln, Shakehands. Keiner hat sich weh getan. Das Messer ist aus Gummi. Aber wäre dies nicht nur ein Training, dann hätte Arne, 49 Jahre und Vater von zwei Kindern, gegen den Angreifer mit dem Messer nur den Hauch einer Chance. Wenn überhaupt. Dann hätte er jetzt wahrscheinlich schwere Verletzungen. Oder schlimmer. Auch nach Jahren der Selbstverteidigungskurse hier beim Verein Krav Maga in Bremen, eine Kampfsportart, die vor allem in Israel beliebt ist.
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Trainer Marc sagt einen Satz, der gemein klingt, aber bittere Wahrheit in sich trägt: „Gewinner eines Messerkampfes ist der, der lebend im Krankenhaus wieder aufwacht.“ Und die beste Abwehr von Messerangriffen ist nur eine: Wegrennen, solange es noch geht – egal, ob im Supermarkt oder zu Hause, in den eigenen vier Wänden. Dort, wo Menschen mit Abstand am häufigsten durch Gewalttaten des Partners verletzt werden.
Mit eleganten Bewegungen kann nur einer Messerattacken parieren: Chuck Norris
Doch gerade Messerattacken in der Öffentlichkeit, so wie der Anschlag in Solingen, machen zuletzt Schlagzeilen. Unsere Redaktion hat mit Polizisten gesprochen, mit Kriminologinnen und Kriminologen, Studien gelesen, um zu erfahren, ob Gewalt mit Messern zunimmt, wer die Täter sind. Und wir wollen von Menschen wie Arne und Trainern wie Jens wissen, was Messer so gefährlich macht – und warum ein Schutz so schwierig ist.
Zurück in der Turnhalle in Bremen. Die Trainer Jens und Marc, beide mit jahrelangen Kampfsport-Erfahrungen und Übungsleiter-Lizenzen, stehen sich gegenüber. Und sie räumen mit einem Mythos auf. „Hollywood ist Bullshit“, sagt Marc. Mit eleganten Bewegungen könne nur einer Messerattacken parieren: Chuck Norris. In Kinofilmen. „Die Realität ist schmutzig.“ Da ist Panik, Blut, alles geht so schnell. Polizei und Kampfsport-Experten sind sich einig: Flucht ist die beste Verteidigung.
Messergewalt: Die Datenlage ist dünn, Forschung gibt es kaum
Dann zückt Trainer Jens das Messer. Auch im Training mit den Gummiwaffen tragen die Teilnehmenden Schutzbrillen. „Manchmal gibt es Situationen, da kann ich nicht mehr fliehen. Weil ich in einem Bahnabteil bin. Weil meine Familie dabei ist, mit kleinen Kindern.“ Aber Marc blockt nicht ab, greift nicht an. Er fragt erstmal den Angreifer: „Was willst du? Mein Portemonnaie? Mein Handy? Kannst du alles haben.“ Deeskalation, solange es geht. „Alles ist ersetzbar.“ Das eigene Leben nicht.
Bundesweit gibt es keine Statistik zu Tötungsdelikten mit Messer. Ohnehin gilt: Die Datenlage ist dünn, Forschung gibt es kaum – was erstaunt, angesichts der großen Debatten über Messergewalt. Erst seit 2020 erfasst die Polizei überhaupt bundesweit Zahlen zu diesen Straftaten. „Die Polizeistatistiken sind derzeit noch ungenügend und teilweise von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geführt“, sagt Kriminologe Dirk Baier, der zu Gewalt forscht.
Grundsätzlich gilt: Deutschland wird sicherer, Gewaltstraftaten haben über viele Jahre abgenommen, liegen heute deutlich unter dem Level der Jahre 2000 oder 2010. Erst 2022 registrierte die Polizei einen Anstieg der Gewaltdelikte. Der Trend ist noch unscharf, vieles kann auch mit den Auswirkungen von Pandemie und Lockdown zusammenhängen – und sich wieder ändern.
2022 erfasste die Polizei in Deutschland 8160 gefährliche und schwere Körperverletzungen mit einem Messer als Tatwaffe. 2021 waren es 7071 Fälle. Ein leichter Anstieg im Vergleich zum ersten Jahr der Erfassung 2021. Kriminologe Baier hat Neuntklässler in Niedersachsen befragt, verglich die Jahre 2013 und 2019. Sein Ergebnis: Mehr junge Menschen tragen ein Messer bei sich. „Die allermeisten sagen: Ich will damit niemanden verletzen. Sie tragen es, weil es Kumpels tun. Oder weil es ihrem Bild von Männlichkeit und Coolness entspricht.“
Kontrolle über einen Angriff mit einem Messer? Das ist eine Illusion
Doch haben Jugendliche das unter Kontrolle? „Eine Illusion“, sagt Experte Baier. „In einer Ausnahmesituation geht diese Kontrolle nämlich schnell verloren.“ Es ist auch das, wovor Selbstverteidigungstrainer Marc und Jens bei seinen Kursen in Bremen warnen: „Tragt kein Messer mit euch!“ Die Wucht einer Verletzung kann kaum jemand steuern, schnell sind kleine Schnitte lebensgefährlich. Am Ende eines Konflikts kann das eigene Messer jemand anderes in der Hand halten. Und: Ein Messer ist so gefährlich, weil es jeder verstecken kann. Aber auch, weil es überall verfügbar ist, einfach zu besorgen: im Supermarkt-Regel, im Baumarkt, oder einfach in der Schublade in der Küche.
Jetzt trägt Arne in der Bremer Turnhalle das Messer in der Hand. Er ist der Angreifer, wenigstens im Training. Sein Partner muss die Attacken abwehren. Wer mit Arne spricht, hört einen ruhigen Mann. Niemand, der Lust auf Prügel oder Stress hat. Vor einigen Jahren, erzählt er, ist er auf einem Volksfest angegriffen worden. Alkohol war im Spiel. „Ich habe gemerkt, ich kann mich nicht wehren. Ich kann meine Familie nicht schützen.“ Also suchte er Hilfe, und kam zum Krav Maga.
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An diesem Juni-Dienstag sind knapp 20 in der Halle dabei, viele Männer – auch ältere – und eine junge Frau. Manche haben selbst Gewalt erlebt, andere kommen, weil sie Angst haben vor einer solchen Situation, vor einer Ohnmacht bei Übergriffen. Andere brauchen es für ihren Beruf: Polizisten, Sicherheitsdienste.
Die Sportart Krav Maga ist bekannt, weil sie in Israel Polizei und Militär trainieren. Dort kommt es häufiger als hier zu Messerangriffen auf der Straße. Krav Maga ist weniger Kampfkunst, es ist „effektiv“, wie Arne sagt. Es gehe darum, den Angreifer „zu stoppen“, sagt Trainer Jens. „Alles ist erlaubt, was im Sandkasten verboten war: Hauen, kneifen, beißen, kratzen.“ Auch zwischen die Beine treten, in die Augen stechen.
Wichtig auch: andere Menschen warnen
Am Ende aber ist vielleicht der Kopf bei einem Angriff mit Messer die wichtigste Verteidigungswaffe. Markus von Hauff arbeitet seit vielen Jahren als Personal Coach und Sicherheitstrainer. „Orientierung und Kommunikation“, das sei wichtig in einer Ausnahmesituation mit einem Messerangriff etwa in einem Einkaufszentrum. „Ich muss wissen, wo der Notausgang ist, wo der schnellste Fluchtweg nach draußen, aber auch, wo ich mich verstecken kann und welche Gegenstände mir als ‚Waffen‘ gegen den Täter helfen können.“ Das kann ein Regenschirm sein, eine Flasche. Wichtig auch: andere Menschen warnen. „Das rettet Leben“, sagt von Hauff.
Doch diese Situationen sind extrem selten. Elena Rausch von der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden hat an eine der wenigen Studien zu Messergewalt in Deutschland mitgearbeitet. Ihr Team hat knapp 500 Gerichtsurteile in Rheinland-Pfalz zu Straftaten mit Messern ausgewertet.
Ihr Ergebnis: Die allermeiste Kriminalität mit Messern findet in Partnerschaften und freundschaftlichen oder früheren Beziehungen statt, fast immer verletzen Männer ihre Partnerinnen oder früheren Partnerinnen. Messergewalt ist ein Delikt im „sozialen Nahraum“, wie Kriminologen sagen. In den Gerichtsakten entdeckte das Kriminologen-Team auch brutale Fälle, in denen ein Mann seine Frau mit 40 Stichen tötete. Nur: Berichtet wird über diesen Gewaltrausch zwischen Partnern selten groß in den Medien.
Herkunft oder Hautfarbe sind nicht kausal für den Einsatz eines Messers
Draußen trifft es häufig bestimmte Berufsgruppen, etwa Polizisten im Einsatz oder Tankstellen-Betreiber, die ausgeraubt werden. Dass unbekannt einen anderen Unbekannten mit einem Messer attackiert, im Stile eines Amoklaufs, ist sehr selten. Rausch sagt: „Es sind nach unseren Studien nur etwa vier Prozent aller Delikte mit Messern, bei denen sich Täter und Opfer vorher nicht kannten.“
Noch etwas fand Rausch heraus: Herkunft oder Hautfarbe sind nicht kausal für den Einsatz eines Messers. „Wir sehen eher andere Faktoren, die relevant sind: das Alter eines potenziellen Täters, die soziale Situation, eine mögliche psychische Belastung.“ Hinzu komme nicht selten ein psychischer Ausnahmezustand des Täters. Das sind allerdings Merkmale, die bei jungen Männern auf der Flucht verstärkt auftreten können. In dem Regionalzug in Brokstedt war der junge Täter schon zuvor mehrfach mit Gewalt aufgefallen, auch mit einer Messerattacke, er saß in Haft, wurde psychiatrisch behandelt.
„Vagotone Schockphase“ nennen Fachleute den Augenblick der Starre
Für untrainierte Menschen ist ein Angriff mit Stichen und Schlägen immer eine Überraschung. „Vagotone Schockphase“ nennen Fachleute den Augenblick, in dem ein Angegriffener in Starre verfällt. Und deshalb kassiert Arne in der Turnhalle in Bremen gerade einige Schläge seines Partners mit dem Boxhandschuh. Sparring, wie in einem Ring, auch mit Tritten und Ringen. Arne und die anderen lernen über die Jahre des Trainings, dass ein Tritt ins eigene Gesicht nicht bedeutet, machtlos zu sein. Und sie üben, sich zu überwinden, einem anderen Menschen ins Gesicht zu schlagen.
Denn kommt es am Ende doch zu einem Kampf gegen einen Angreifer, dann hilft vor allem eines, sagt Kampfsportler von Hauff: „Aggressivität.“ Wer mit einer lebensgefährlichen Waffe wie einem Messer attackiert werde, müsse „Waffengleichheit“ irgendwie herstellen. Angriffe auf den Kopf, Tritte gegen die Knie. Um doch noch die Chance zur Flucht zu bekommen. „Bloß nicht auf das Messer fokussieren“, sagt von Hauff.
Nach dem Training atmet Arne noch kurz. Die Fitness. Heute war er zum ersten Mal seit sechs Wochen wieder in der Halle. Er geht zu seiner Tochter, die auf ihn wartet. Sie ist zehn Jahre alt – und macht wie der Vater seit einiger Zeit den Kinderkurs im Krav Maga. „Ich möchte mich als Kind verteidigen können“, sagt sie. Nutzen musste sie den Kampfsport noch nicht. Und zuhause, sagt Vater Arne, herrsche Kampfsport-Tabu. Außer, wenn Vater und Tochter gemeinsam trainieren. Übungsmesser aus Gummi, sagt Arne, habe er sich neulich auch schon mal besorgt.
Dieser Text wurde erstmals im Juli 2023 veröffentlicht.