Berlin. Die Grünen erleben eine harte Niederlage. Das hat auch mit Robert Habeck zu tun: In ihm wird das ganze Dilemma der Partei sichtbar.
Und jetzt, an diesem Morgen, soll er also erklären, was für ihn kaum zu erklären ist. Der Grünen-Landwirtschaftsminister Cem Özdemir sitzt im Studio des „Morgenmagazins“ der ARD. Es geht um eine Zahl, um eine kleine Zahl. Sie lautet 11,9. So viele Prozent haben die Grünen bei der Europawahl laut vorläufigem Endergebnis erreicht, es ist enttäuschend für die ganze Partei. Wie konnte das passieren? Cem Özdemir atmet durch und sagt dann: „Die Grünen haben Vertrauen eingebüßt.“
Hell leuchten ihm die Fernseh-Scheinwerfer ins Gesicht, er lächelt nicht und sieht ratlos aus. Dann sagt Özdemir noch: „Die Art, wie wir Klimaschutz betreiben, hat jetzt nicht alle überzeugt.“ Viel weitreichender wird seine Analyse nicht, die Nacht war kurz. Abzusehen war, dass es bei der Europawahl nicht gut laufen würde für die Grünen. Doch nun zeigt sich, dass es eine Katastrophe geworden ist.
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Sogar die Parteichefs klangen am Sonntag fast verzweifelt. „Wir werden das gemeinsam aufarbeiten“, sagte die Vorsitzende Ricarda Lang. Und der Co-Vorsitzende Omid Nouripour setzte hinzu: „Unser Anspruch ist ein anderer.“ Das Entsetzen ist groß, der Schock sitzt tief. Mancher denkt jetzt zurück, an die letzte Europawahl. 20,5 Prozent erreichten die Grünen damals, überholten die SPD und wirkten wie die neue Volkspartei.
Europawahl 2024: Der Einbruch der Grünen ist eine Zäsur
Der „Spiegel“ veröffentlichte danach ein Cover, auf dem ein grüner Rollrasen zu sehen war, der direkt aufs Kanzleramt zuführte. Es war ein Moment, in dem alles möglich schien. Jetzt scheint er eine Ewigkeit zurückzuliegen. Von 20 Prozent auf knapp zwölf Prozent. Der Einbruch ist eine Zäsur. Nun geht eine Art Gespenst bei den Grünen um: Es ist die Angst vor dem Absturz.
Was, fragen sich manche in der Parteizentrale bang, wenn das nur der Anfang war? Wenn die grüne, moderne Partei gar nicht mehr so modern ist? Und was, wenn es womöglich in Zukunft gar keinen Kanzlerkandidaten mehr braucht? Wenn die Macht insgesamt schmilzt? Wer sich bei der Ökopartei zu diesen Fragen umhört, stößt auf Ratlosigkeit. Die Zeit des Höhenflugs ist vorbei, die Zeit der Ungewissheit angebrochen.
Am Sonntagabend, bei der Wahlparty der Grünen mit veganen Würstchen in Berlin, fehlen ausgerechnet Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock. Die beiden, die auf den Wahlplakaten riesengroß in ganz Deutschland zu sehen waren. Und die beide als mögliche Kanzlerkandidaten galten – wobei viele von einer möglichen Kandidatur von Habeck ausgingen. Ein Insider sagt: „Das war natürlich kein Zufall. Es geht jetzt darum, keine Bilder zu produzieren, die in einem Abwärts-Strudel münden.“
Ausgerechnet junge Erstwähler wählen die Grünen nicht
Die Vize-Fraktionsvorsitzende und Vertraute von Außenministerin Annalena Baerbock, Agnieszka Brugger, sagt dieser Zeitung: „Das letzte, was die Partei gerade braucht, sind panische Flügelkämpfe. Es braucht gemeinsame Verantwortung, keine schnellen Alibi-Schuldzuweisungen am Wahlabend.“ Deshalb beugen sich jetzt die Partei-Strategen mithilfe von Demoskopen über die Auswertung des politischen Desasters, das sich vor ihnen ausbreitet.
Die Zahlen sollen helfen, die Katastrophe zu verstehen. Vorläufige Ergebnisse belegen, dass die Partei gegenüber der letzten Europawahl über eine halbe Million Wähler an die Union verloren hat. Auch die Klimabewegung, die vorher eng zu den Grünen hielt, droht politisch zu zersplittern. Die liberal-progressive Volt-Partei, die ebenfalls den Klimaschutz zum Zentrum ihres Wahlkampfs machte, konnte ihren Stimmenanteil von 0,7 auf knapp drei Prozent steigern.
Doch vor allem bei den jungen Wählern zwischen 16 und 24 Jahren zeigt sich die schwindende Unterstützung. Hier erreichten die Grünen nur noch elf Prozent der Stimmen, gegenüber etwa 34 Prozent im Jahr 2019. Volt kam jetzt in dieser Altersgruppe auf neun Prozent, die AfD sogar auf 17 Prozent. Ausgerechnet die jungen Wähler wenden sich ab – dabei hatten die Grünen sich unter anderem für eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre bei der Europawahl eingesetzt.
Habeck hat Kernklientel der Grünen mit etwas verschreckt
Wer verstehen will, warum die grünen Kanzlerträume zumindest vorerst platzen, muss die aktuelle Lage der Partei in der Regierung betrachten. Es geht um die Frage, wie Klimapolitik umgesetzt wird. Die Abschaffung der Sektorziele im Klimaschutzgesetz und das Ja zu strengeren Migrationsregeln stießen auf Ablehnung bei den Stammwählern. Doch andererseits gab es viel Skepsis in der Breite der Bevölkerung beim Widerstand gegen die Verlängerung der AKW-Laufzeiten.
Der Parteiforscher Karl-Rudolf Korte fasst das am Sonntagabend im ZDF so zusammen: „Für überzeugte Umwelt- und Klimaschützer machen sie zu sehr pragmatische Politik, für bürgerliche Wähler sind sie offenbar zu übergriffig. Insofern ist auch ein Ausweg gar nicht wirklich erkennbar.“ Intern raunt mancher: Der aktuelle Kurs der Mitte produziere nur Verlierer.
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Die Debatte konzentriert sich vor allem auf Robert Habeck, den Vizekanzler und Wirtschaftsminister. Er ist nicht allein für die Misere verantwortlich, doch in ihm findet das Dilemma der Partei seine Zuspitzung. Vor allem auch deshalb, weil das von ihm geplante Heizungsgesetz immer noch intern diskutiert wird. Es gilt als Paradebeispiel für die grüne Zerrissenheit. Die Kernfrage lautet: Wie viel grüne Ideologie soll sein? Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm sagte dazu unserer Zeitung, das Gesetz habe „viel Vertrauen“ beim Wähler zerstört.
Offen nun, wie es weitergeht. Ob die Frage einer Kanzlerkandidatur nun wirklich abgehakt ist oder nicht. Es ist eine Gratwanderung. Innerhalb der Grünen geht die Überlegung dazu so: Wenn man einen Kanzlerkandidaten aufstellt, dann klingt das nach staatspolitischer Verantwortung, nach Augenhöhe mit SPD und Union, wie im Sommer 2019. Doch eine Kanzlerkandidatur bei zwölf Prozent? Das kann eben schnell auch größenwahnsinnig wirken.
Kanzlerkandidatur? „Panzer-Toni“ prescht schonmal vor
Bereits am Sonntagabend, als noch gar nicht klar ist, wie groß die Misere wirklich sein wird, weil die Zahlen alle noch unsicher sind, prescht einer schonmal vor. Es ist der Vorsitzende des Europaausschusses, Anton Hofreiter. Er sagte dieser Zeitung: „Klar ist, dass wir eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten nur aufstellen, wenn eine realistische Chance auf einen Wahlsieg besteht.“ Nach dem Ergebnis müsse man „sich genau überlegen“, ob das der Fall sei.
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Das klingt nach: Lassen wir die Kanzlerkandidatur sein. Doch es gibt auch andere Stimmen. Stefan Gelbhaar, der Grünen-Verkehrsexperte sagt dieser Zeitung: „Die Vorbereitungen für die Bundestagswahl rücken jetzt mehr in den Vordergrund – und damit auch die Machtfrage. Diese ist von Seiten der Bündnisgrünen auch personell zu beantworten, das braucht dann natürlich eine entsprechende Kandidatur.“ Die Partei steht vor harten inhaltlichen Auseinandersetzungen.
Im ARD-Studio am Montagmorgen wird Cem Özdemir ganz am Schluss nach den langen Linien der Politik gefragt. Özdemir sagt: „Wir können das Thema Wirtschaft und Klimaschutz zusammenbringen, sodass beide davon profitieren. Oder wir können es nicht – dann verlieren wir halt zurecht.“ Er redet eigentlich über die Ampelkoalition. Doch es klingt, als meine er seine eigene Partei.
Name | Robert Habeck |
Geboren | 2. September 1969 in Lübeck |
Ehepartnerin | Andrea Paluch (verheiratet seit 1996) |
Partei | Bündnis 90/Die Grünen |
Geschwister | Hinrich Habeck |
Ausbildung | Universität Hamburg (2000) |
Familienstand | Verheiratet, vier Söhne |
Ämter | Vizekanzler und Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland |