Berlin. Lange galten die Wahlen für das EU-Parlament als zweitrangig. Aber dieses Mal steht bei der Wahl am Sonntag viel auf dem Spiel.

Das ist eine gute Nachricht vor der Europawahl. Das Interesse der Bundesbürger an der Abstimmung an diesem Sonntag ist nach allen Umfragen unerwartet hoch. Die Demoskopen sagen eine relativ starke Wahlbeteiligung voraus. Hoffentlich haben sie recht.

Es steht viel auf dem Spiel. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen die Europawahl als zweitrangig gelten durfte, weil das Parlament eh nicht viel zu sagen hatte. Nicht nur, weil das EU-Parlament einen bedeutsamen Machtzuwachs erfahren hat und dort heute wichtige Entscheidungen fallen, die unser Leben auch im Alltag betreffen.

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Es geht diesmal um mehr: Europa ist gefordert wie nie – von außen durch den Krieg in der Ukraine und die Bedrohung durch Russland, durch die Klimakrise, geopolitische Spannungen, Handelskonflikte. Und von innen durch den Aufstieg von nationalistischen, zum Teil rechtsextremen Kräften, die die Einheit Europas zurückdrehen oder ganz zerstören wollen, die europäische Werte verhöhnen wie sonst nur Autokraten vom Schlage Wladimir Putins.

Die Wahl in der EU entscheidet nicht nur darüber, welche Abgeordneten ins Parlament entsendet werden. Sie ist auch eine Grundsatzentscheidung über die Zukunft des vereinten Europas. Sind die Kräfte künftig noch stark genug, die konstruktiv Probleme lösen wollen – oder sitzen bald zu viele Politiker in Brüssel und Straßburg, die nur Sand ins Getriebe streuen wollen?

Die Folgen wären verheerend, gerade für Deutschland

Rechtsaußen-Parteien in wichtigen Ländern gaukeln den Wählern vor, die Krisen ließen sich mit einem Zurück in die Vergangenheit, mit einem nostalgischen Rückzug auf rein nationale Politik bewältigen. Aber die Rückabwicklung der europäischen Integration ist keine Lösung, im Gegenteil: Die Folgen wären verheerend, gerade für Deutschland mit seinen vielen Nachbarn in der Mitte Europas, das vom Binnenmarkt so wie kein anderes Mitgliedsland profitiert. Käme es gar zum EU-Austritt Deutschlands, drohte uns die politische Isolation und wirtschaftlich ein Desaster, was uns Millionen Arbeitsplätze kosten dürfte.

Muss deshalb alles so bleiben, wie es ist? Nein, nicht alles läuft gut in Europa. Vieles geschieht zu schwerfällig, die Fliehkräfte nehmen zu. Entscheidungsprozesse sind kompliziert und zu wenig transparent. In Brüssel ist zuletzt wieder ein Hang zur Überregulierung sichtbar geworden, den man längst für überwunden hielt. Und ja, es gibt auf der Ebene der EU-Institutionen nach wie vor ein Demokratiedefizit. Die Bereitschaft der führenden Politiker, daran etwas zu ändern und Europas Integration voranzubringen, war schon mal größer, heute herrscht zu viel Kleinmut.

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EU-Korrespondent Christian Kerl © FMG | FMG

Trotzdem: Die EU ist eine Erfolgsgeschichte, um die uns viele Länder außerhalb Europas beneiden – und deren Anziehungskraft als Garant von Frieden, Demokratie und Wohlstand die Autokraten in aller Welt fürchten. Dieser Erfolg gerät in Gefahr, wenn nationalistische EU-Feinde jetzt so viel Einfluss gewinnen, dass sie zumindest bremsen und blockieren können. Ausgerechnet jetzt, da sich die Union Herausforderungen von historischem Ausmaß gegenübersieht.

Die EU kann sich nur behaupten, wenn sie einig ist – was bei 27 Mitgliedstaaten die Fähigkeit zum Kompromiss einschließt. Über den Spielraum dafür entscheidet auch das Parlament. Das große Interesse im Vorfeld macht Hoffnung, dass sich die Mehrheit der Wähler die Bedeutung der Europawahl nicht länger kleinreden lässt. Das Herz der europäischen Demokratie hält vieles aus, eines auf Dauer kaum: Gleichgültigkeit der Bürger.

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