Düsseldorf. 33 Stunden Telefonate für einen Schutzplatz? Ein Bürgermeister packt jetzt aus über Inobhutnahmen von gefährdeten Kindern in NRW.
Die nordrhein-westfälischen Kommunen haben immer größere Probleme, misshandelte oder vernachlässigte Kinder aus ihren Familien zu holen. „Die Unterbringung von bedrohten Kindern und Jugendlichen setzt ein ausreichendes Angebot an Einrichtungen voraus. Aktuell muss festgestellt werden, dass dieses Angebot nicht mehr vorgehalten werden kann“, heißt es in einem Schreiben des Dattelner Bürgermeisters André Dora (SPD) an Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne), das unserer Redaktion vorliegt.
In der Zuständigkeit des Dattelner Jugendamtes liegt die überregional bedeutende „Vestische Kinder- und Jugendklinik“. Dora schildert in dem vierseitigen Brief eine besorgniserregende Entwicklung. Zuletzt habe sein Jugendamt im Rahmen einer Inobhutnahme mehr als 100 Einrichtungen anfragen müssen, um eine entsprechende Schutzstelle für ein gefährdetes Kind zu finden. Das summiere sich leicht auf 33 Stunden für Telefonate.
Im Jahr 2022 wurden bundesweit mehr als 66.000 Kinder in Obhut genommen
Im Jahr 2022 wurden bundesweit mehr als 66.000 Minderjährige in Obhut genommen. Das bedeutete einen Anstieg um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Fachleute warnen schon länger vor einem gefährlichen Mix aus unterschiedlichen Entwicklungen: Neben dem allgemeinen Fachkräftemangel in der Sozialpädagogik haben die Corona-Krise und hohe Flüchtlingszahlen mit vielen allein reisenden Jugendlichen den Versorgungsbedarf in der Jugendhilfe nochmals erhöht.
„Kinder und Jugendliche verbleiben trotz akuter Gefahren in ihren Familien oder Mitarbeitende der Jugendämter müssen Wege und Mittel finden, um Kinder in Räumlichkeiten des Jugendamtes oder bei sich privat unterzubringen“, warnt Dora.
Problemfamilie mit fünf Kindern kostet Stadt leicht halbe Million Euro pro Jahr
Von der schwarz-grünen Landesregierung fühlt sich die Dattelner Stadtverwaltung augenscheinlich allein gelassen. NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) habe auf einen ähnlichen Brandbrief erst knapp fünf Monate später geantwortet und lediglich auf die Verantwortung von Kreisen und Kommunen verwiesen, klagt der Dattelner Bürgermeister. Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), der sich eigentlich Förderung und Schutz von Kindern auf die Fahne geschrieben hat, sei bereits im Oktober 2023 alarmiert worden.
Zuletzt hatte bereits ein Fall des Jugendamts Siegen für Aufsehen gesorgt. Die dortige Verwaltung musste 84 Einrichtungen anfragen, um einen Platz für eine elfjährige „Systemsprengerin“ zu finden. Darunter versteht man Kinder, die oft aus schwierigen Verhältnissen kommen und kaum beschulbar sind. Jeder zweite Mitarbeiter des Jugendamtes habe mittlerweile eine Überlastungsanzeige gestellt, hieß es dort.
Bei der letzten statistischen Erfassung bilanzierte NRW bereits im Jahr 2021 mehr als 12.000 Inobhutnahmen pro Jahr. Damit sind Kosten für die Städte von schätzungsweise einer Milliarde Euro verbunden. In der Siegener Kommunalpolitik wurde jüngst überschlagen, dass allein eine Problemfamilie mit fünf Kindern den Jugendamtsbezirk leicht eine halbe Million Euro extra kosten könne.