Brüssel. Von der Leyens holpriger Wahlkampf und Gerüchte über einen Sturz: In Brüssel wird schon über neue Präsidenten-Kandidaten geredet.
Ursula von der Leyen ist eine der mächtigsten Frauen der europäischen Politik, sie würde es gern fünf weitere Jahre bleiben: Doch ob die 65-Jährige nach der Europawahl tatsächlich in eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin starten kann, ist ungewiss. Ihre Parteifamilie der europäischen Christdemokraten (EVP), deren Spitzenkandidatin von der Leyen ist, dürfte zwar wieder stärkste Kraft im Parlament werden – doch ein überraschend holpriger Wahlkampf und Fehler der Vergangenheit bringen von der Leyens Wiederwahl in Gefahr. Längst wird in Brüssel über andere Kandidaten für das Präsidentenamt diskutiert. Was läuft schief, wer könnte sie ersetzen?
Der Rückhalt für von der Leyen bröckelt
Nach der Europawahl müssten die Staats- und Regierungschefs von der Leyen mit Mehrheit für eine zweite Amtszeit vorschlagen. Doch jetzt scheint ausgerechnet Kanzler Olaf Scholz (SPD) seine Unterstützung für von der Leyen infrage zu stellen: „Wenn die nächste Kommission gebildet wird, darf sie sich im Parlament nicht auf eine Mehrheit stützen, die auch die Unterstützung von Rechtsextremen braucht“, sagte Scholz. Er sei „sehr bedrückt über die Uneindeutigkeit manch politischer Aussage, die wir zuletzt gehört haben“. Das zielte offensichtlich auf die Bereitschaft von der Leyens, sich im Parlament auch mit den Stimmen von Rechtsaußen-Parteien wählen zu lassen – sie fürchtet, dass sie sonst keine Mehrheit zusammen bekommt.
Aber so ist der Rückhalt im Rat in Gefahr: Ohne die klare Rückendeckung des Kanzlers fällt von der Leyen bei den Regierungschefs durch. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron steht ohnehin im Verdacht, von der Leyen stürzen zu wollen. Sie ist ihm wohl zu eigenmächtig geworden. Ihr Amt dürfe nicht „überpolitisiert“ ausgeübt werden, mahnte Macron kürzlich. Seine Vertrauten in Brüssel verweigern bislang eine Zusage, dass sie im EU-Parlament für die Deutsche stimmen werden.
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Macron soll bereits mit Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni über die Idee gesprochen haben, von der Leyen durch den Italiener Mario Draghi zu ersetzen. Ob der Präsident nur hoch pokert, um sich Zugeständnisse von der Leyens bei ihrem künftigen Kurs zu erzwingen, ist unklar. Diplomaten in Brüssel verweisen auf den Startvorteil der amtierenden Präsidentin, die im Top-Job erfahren und gut eingearbeitet ist und ein stabiles Netzwerk aufgebaut hat. Aber eine Garantie, heißt es, sei das sicher nicht.
Die Liste der Alternativ-Kandidaten
In Brüssel verstummen die Gerüchte nicht, dass Macron und vielleicht auch Meloni Mario Draghi an die Kommissions-Spitze hieven könnten. Draghi war nicht nur Präsident der Europäischen Zentralbank, sondern auch Melonis Amtsvorgänger in Italien; den Machtwechsel organisierten beide reibungslos, auch als Oppositionspolitikerin hatte Meloni gut mit Draghi zusammengearbeitet. Würde er Kommissionspräsident, könnte Meloni auf besonderes Verständnis in Brüssel für italienische Probleme zählen. Aber der in EU-Kreisen hochgeschätzte Elder Statesman steht auch Macron nahe.
Im Juni wird Draghi im Brüsseler Auftrag einen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der Union vorlegen und darin einen „radikalen Wandel“ der EU in der Konkurrenz mit China und den USA fordern. Draghis Problem: Er ist schon 76 Jahre alt und hat keine klare parteipolitische Zugehörigkeit – die Christdemokraten, die im Parlament wohl wieder stärkste Fraktion werden, dürften aber den europäischen Spitzenjob für ihre Partei beanspruchen.
Beide Probleme hätte Roberta Metsola nicht: Die amtierende Präsidentin des EU-Parlaments ist 45 Jahre alt, gehört den Konservativen an und war schon als Spitzenkandidatin der Christdemokraten zur Europawahl im Gespräch für den Fall, dass von der Leyen verzichtet hätte. Die aus Malta stammende Metsola gilt als durchsetzungsstark, ehrgeizig und sehr gut vernetzt. Sie war die erste ranghohe EU-Politikerin, die nach Kriegsbeginn die Ukraine besuchte. Weitere prominente Christdemokraten, die als Kandidaten genannt werden, sind der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, sein kroatischer Amtskollege Andrej Plenkovic und der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis.
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Alle drei kennen das EU-Geschäft hautnah von vielen Gipfeltreffen und haben einen guten Ruf bei den anderen Regierungschefs. Johannis sucht eine neue Aufgabe, weil seine Amtszeit in Rumänien im Dezember abläuft. Er hat deshalb auch schon seinen Hut für den Posten des Nato-Generalsekretärs in den Ring geworfen, da allerdings gilt der Niederländer Mark Rutte als gesetzt. Mit Johannis oder dem ehrgeizigen Plenkovic, der sogar die Kandidatenliste seiner Partei in Kroatien für die Europawahl anführt, würde erstmals ein Osteuropäer Präsident der Kommission.
Als Kandidaten genannt werden in Brüssel zudem gleich zwei Franzosen: Der Brüsseler Industrie-Kommissar Thierry Breton, der seine Ambitionen schon vor einem Jahr enthüllt hatte, und die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde. Breton, zuletzt ein scharfer Kritiker von der Leyens, dürfte aber keine Chancen haben. Lagarde täte sich vermutlich schwer, ihr EZB-Amt mitten in der laufenden Amtszeit aufzugeben. Denkbar allerdings, dass im Rat der Regierungschefs noch jemand einen Überraschungskandidaten präsentiert, so wie Macron 2019 von der Leyen vorschlug. In diesem Moment könnte, heißt es, der Name von Kristalina Georgieva fallen: Die frühere EU-Haushaltskommissarin aus Bulgarien arbeitet heute als Direktorin des Internationalen Währungsfonds.
Von der Leyens holpriger Wahlkampf
Die Last von der Leyens: In Brüssel waren viele davon ausgegangen, dass von der Leyen eine zweite Amtszeit sicher hat, wenn sie sich bewirbt. Als Krisenmanagerin hatte sie eine ordentliche Figur gemacht, auch wenn ihre Gesamtbilanz umstritten ist. Für Debatten sorgt in diesen Wahlkampfwochen aber wieder von der Leyens Rolle beim größten Corona-Impfstoff-Deal der EU mit dem US-Pharmakonzern Pfizer. Das Milliardengeschäft soll die Präsidentin persönlich eingefädelt haben. Die Europäische Staatsanwaltschaft ermittelt seit 20 Monaten wegen der Impfstoff-Beschaffung, die belgische Justiz untersucht in diesem Zusammenhang den Vorwurf der Korruption gegen von der Leyen. Belege dafür sind bislang nicht bekannt, doch weigert sich die Präsidentin eisern, für Transparenz zu sorgen.
Holprig begann dann ihre Wahlkampagne: Beim EVP-Parteitag in Bukarest nahm nur die Hälfte der Delegierten an der Nominierungsabstimmung teil – und von denen stimmten nur 80 Prozent für die einzige Bewerberin. Die CDU hat von der Leyen zwar für die Wiederwahl vorgeschlagen, im Wahlkampf in Deutschland spielt sie aber kaum eine Rolle. Stattdessen startete die CDU als Krönung der Wahlkampagne eine Aktion gegen das europaweite Aus für neue Verbrennerautos ab 2035 – jenes Verbot, das die EU-Kommission unter Führung von der Leyens auf den Weg gebracht hat.