Düsseldorf. Das erste „Lagebild Islamismus“ für NRW zeigt, wie geschickt radikale Prediger heute um Jugendliche werben und wie hilflos Lehrer sind.
Der Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und die harte militärische Reaktion daraufhin im Gazastreifen haben unmittelbare Auswirkungen auf den islamistischen Extremismus in Nordrhein-Westfalen. „In vielen Fällen verbirgt sich hinter der Solidarität mit Palästina nichts anderes als Judenhass“, sagte Innenminister Herbert Reul (CDU) am Dienstag bei der Vorstellung des ersten „Lagebildes Islamismus“ in Düsseldorf.
Der NRW-Verfassungsschutz hat auf 60 Seiten analysiert, wie der eskalierte Nahost-Konflikt von Islamisten an Rhein und Ruhr zurzeit instrumentalisiert wird. Er ermögliche den radikalen Wortführern, weit über ihr Kernklientel hinaus bis in die Mitte der Gesellschaft hinein um Anschluss und Solidarität zu werben, heißt es in dem Lagebild. So drohe die Gefahr einer Entgrenzung zwischen extremistischen und nicht-extremistischen Gesellschaftsspektren. Reul sprach von einem „unauffälligen Einfallstor zum Islamismus“.
Aktuell sind in NRW rund 2600 extremistische Salafisten nachrichtendienstlich bekannt, davon 600 dem gewaltorientierten Spektrum zuzuordnen. Vor allem in den Ballungsräumen der Rheinschiene um Köln und Bonn sowie Düsseldorf und Mönchengladbach oder im Ruhrgebiet zwischen Dortmund und Essen sind sie vernetzt. Es gibt eine Vielzahl an radikalen Organisationen und Vereinen.
ISPK gilt als gefährlichster Akteur des Dschihadismus
„Was all diese Strömungen vereint, ist Judenhass und die Ablehnung Israels“, betonte Reul. Den Terrorableger „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ (ISPK) bezeichnete der Minister als den „bei weitem aktivsten und gefährlichste Akteur der dschihadistischen Szene“. Dem ISPK geht es darum, radikalisierte Einzeltäter oder Kleinstgruppen zu Anschlägen in den „Ländern der Ungläubigen“ zu motivieren.
Für NRW besteht weiterhin eine sehr hohe abstrakte Gefahr eines Terrorakts. Besonders bei prestigeträchtigen Großveranstaltungen wie der bevorstehenden Fußball-Europameisterschaft mit den Spielorten Köln, Düsseldorf, Gelsenkirchen und Dortmund sind die Sicherheitsbehörden alarmiert. „Damit das auch nicht falsch verstanden wird: Es gibt keine konkrete Bedrohungslage im Moment, aber die Gefahr ist abstrakt hoch und kann eben dann ganz schnell konkret werden“, sagte Reul.
Die Verfassungsschützer sehen mit Sorge die weiterhin bestehende „Fähigkeitslücke deutscher Sicherheitsbehörden“. Im Klartext: Etliche Anschläge konnten in der Vergangenheit nur deshalb verhindert werden, weil ausländische Geheimdienste Chatnachrichten abgefangen haben und der Bundesrepublik einen Warnhinweis gaben. Zuletzt vereitelte wohl nur ein Ermittlungszufall den Weihnachtsanschlag auf den Kölner Dom.
Reul hofft auf neuen Anlauf bei der Vorratsdatenspeicherung
In Deutschland verhindert der Datenschutz, dass Nutzerinformationen von Handy-Providern über einen längeren Zeitraum gesichert werden. Obwohl die Debatte über die Vorratsdatenspeicherung seit Jahren fruchtlos geführt wird, will Reul die Abhängigkeit von der Kooperationsbereitschaft anderer Geheimdienste verringern und wirbt unverdrossen um neue rechtliche Möglichkeiten seiner Ermittler. Er wünsche sich zwischen Bund und Ländern „eine große Koalition aller demokratisch vernünftigen Parteien“ für mehr technische Möglichkeiten: „Zwischen ‚alles abgreifen‘ und Nichtstun muss es ja auch noch was geben.“
Anders als noch vor wenigen Jahren stehen in der direkten Beobachtung nicht mehr allein die NRW-weit rund 14 islamistisch beeinflussten Moscheen im Fokus der Verfassungsschützer. Gefährlicher erscheinen längst Einzeltäter ohne Anbindung an Terrorgruppen, die sich durch Online-Inhalte radikalisieren und kaum zu erfassen sind. Vor allem Jugendliche werden von populären Predigern rund um die Uhr über die Sozialen Netzwerke geködert.
Im Stile von Influencern wird heute nicht theologisch argumentiert, sondern sehr lebensnah in Umgangssprache. Das Narrativ einer angeblich allgemeinen Ungerechtigkeit des Westens gegenüber dem Islam findet in bestimmten Milieus einen Resonanzboden. Das Netz sei mehr und mehr „ein Hochleistungsmotor für Radikalisierung“, sagt Reul. Das Handy sei „die Radikalisierungsmaschine in der Hosentasche“. Der extremistische Salafismus werde als Ideologie für Jugendliche immer attraktiver.
Das Land hat seine Prävention inzwischen darauf ausgerichtet, doch es gibt vor allem in den Schulen offenbar noch Luft nach oben. Dort müsse man eine „breite Kooperation aufbauen“ und Lehrer handlungssicher machen, erklärt Verfassungsschutz-Chef Jürgen Kayser. „Oftmals gibt es ganz früh Anzeichen, dass Jugendliche zum Beispiel im Unterricht sagen, sie wollten mal über den Islamischen Staat diskutieren.“ Dann müsse man als Pädagoge wissen, wie man damit umgeht.
„Die Lehrer sind noch nicht alle auf diese Problematik vorbereitet. Die Jugendlichen kommen mit diesen Videos indoktriniert in die Schule und bringen da häufig einen Argumentationskasten mit gegenüber den Lehrern, was für Rechte sie denn hätten als Islamisten im Schulunterricht“, erläutert Kayser.
Trotz der digitalen Mobilisierung von Jugendlichen setzen Islamisten auch auf sichtbare Demonstrationen wie zuletzt die Kalifat-Forderung in Deutschland. Mit den Videos von solchen Veranstaltungen werden wiederum die sozialen Netzwerke geflutet. Reul wirbt beim Bund dafür, verantwortliche Vereine wie „Muslim Interaktiv“ zu verbieten. „Diese Verbote haben nämlich eine Wirkung“, sagt er. „Die Strukturen werden mit sowas durcheinandergebracht und die Reichweite der Akteure wird reduziert.“ Zumindest kurzzeitig, bis neue auf den Plan treten.