Berlin. In fünf Wochen sind Europawahlen. Wahlkampfstimmung? Noch Fehlanzeige. Aber es gibt trotzdem genug Gründe, wählen zu gehen.
Jetzt wird es spannend in Europa: Nur noch fünf Wochen sind es bis zur Europawahl am 9. Juni. Der Wahlkampf ist hierzulande zwar eher schleppend angelaufen – aber das Interesse an Europa ist gerade bei den Bundesbürgern groß, wie neue Umfragen zeigen. Und es ist größer als bei der letzten Europawahl 2019, bei der am Ende in Deutschland ordentliche 61 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimmen abgaben, so viele wie seit 30 Jahren nicht. Wird die Wahlbeteiligung diesmal noch höher ausfallen? Fast neun von zehn Wählern sind laut Eurobarometer überzeugt, dass es diesmal besonders wichtig ist, seine Stimme abzugeben. Argumente dafür gibt es viele. Hier sind fünf besonders wichtige Gründe, warum es sich lohnt, zur Wahl gehen.
1. Das EU-Parlament ist mächtiger, als viele glauben
Die Zeiten, in denen das Parlament kaum etwas zu entscheiden und eher beratende Funktion hatte, sind längst vorbei. Heute entscheiden die für fünf Jahre gewählten Abgeordneten gleichberechtigt zusammen mit dem Rat der Mitgliedstaaten über fast alle Gesetzgebungsfragen und über den EU-Haushalt. In der zu Ende gehenden Wahlperiode beschloss das Parlament immerhin 370 Gesetze. Die 720 Abgeordneten haben zudem das entscheidende Wort bei der Wahl der Kommissionspräsidentin und der 26 Kommissarinnen und Kommissare, die zusammen als eine Art EU-Regierung fungieren.
Die Parlamentarier haben auch Kontrollbefugnisse und können die Kommission sogar zum Rücktritt zwingen. Allerdings dürfen die Abgeordneten, anders als etwa der Bundestag, keine eigenen Gesetzesinitiativen starten, das ist der Kommission vorbehalten. Und als zentrales Defizit gilt, dass es kein gleiches Stimmrecht in den EU-Staaten gibt: Ein deutscher Abgeordneter vertritt zehnmal mehr Bürger als eine Abgeordnete aus Luxemburg. Doch ist das Parlament die einzige EU-Institution, die die Bürger direkt wählen können.
2. Europa bestimmt unseren Alltag
Viele Entscheidungen, die unser tägliches Leben beeinflussen, trifft inzwischen nicht mehr jeder Nationalstaat für sich, sondern die EU – im Zusammenspiel von Parlament, Rat der Mitgliedstaaten und Kommission. Das betrifft nicht nur so große Fragen wie den Klimaschutz. Es beginnt schon beim Datenschutz im Internet oder dem Ende von Roaminggebühren beim mobilen Telefonieren, reicht über verbindliche Fahrgastrechte, das Recht auf ein Girokonto oder neue Auflagen für sauberes Trink- und Badewasser bis hin zu Regeln für mehr Recycling oder weniger Schadstoffe in der Luft.
3. Wähler bestimmen Europas Richtung mit
Die Europawahl ist auch eine Entscheidung über die grundsätzliche Richtung des vereinten Europas: Soll die EU in den nächsten Jahren mehr Tempo machen für den Beitritt der Ukraine, Moldawiens und der Westbalkan-Staaten – und wie muss sich die Union dafür im Innern verändern? Wie viel Hilfe soll es für die Ukraine geben? Muss die EU mehr für ihre Verteidigungsbereitschaft tun, wie lässt sich Migration besser managen? Wie kann wirtschaftlicher Wohlstand im Binnenmarkt gesichert vorangetrieben werden? Brauchen wir mehr oder weniger Macht für Brüssel? Gerade um solche großen Fragen unserer Zukunft geht es bei der Wahl. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola appelliert an die Wähler: „Ihre Stimme entscheidet darüber, welchen Kurs die EU in den kommenden fünf Jahren einschlägt. Sie entscheidet darüber, in was für einem Europa wir leben wollen.“
4. Das Wahlrecht ist ein Privileg
Freie Wahlen sind ein demokratisches Grundrecht, um das uns Menschen in vielen Staaten der Erde beneiden. Alle Wahlberechtigten in Deutschland und der Europäischen Union können aktiv mitwirken. Andererseits funktioniert Demokratie nicht ohne Wähler. Das EU-Parlament erinnert in diesen Tagen mit einem Kurzfilm zur Wahl daran, dass Demokratie ein einzigartiges und schützenswertes Gut ist: Zeitzeugen erzählen, wie die Macht der Demokratie ihr Leben beeinflusst hat. So sagt eine 1928 geborene Französin: „Wenn ich Dir noch eine Botschaft mitgeben darf, bevor ich gehe: Es lebe die Demokratie.“ Den Aufruf des Parlaments erfährt auch in Deutschland viel Unterstützung: So beklebt die Lufthansa bis zum Wahlsonntag vier Flugzeuge mit dem Slogan „Yes to Europe“. Die beiden größten deutschen Musikfestivals Rock im Park (Nürnberg) und Rock am Ring (Nürburgring, Eifel), die am Wochenende der Europawahl stattfinden, organisieren für rund 170.000 Teilnehmende eine Briefwahlkampagne.
5. Ein Zeichen gegen Extremismus setzen
Bei der Europawahl zeichnet sich nach Umfragen ein deutlicher Zuwachs von rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien ab. Demoskopen erwarten, dass solche Rechtsaußen-Parteien ihren Anteil an den Mandaten von bisher etwa 20 Prozent auf mindestens 25 Prozent steigern können, im Extremfall auch auf 30 Prozent. Viele dieser Parteien sind erklärte Gegner der Europäischen Union – je stärker sie werden, desto mehr Möglichkeiten haben sie, Sand ins Getriebe des vereinten Europas zu streuen und die Union zu lähmen. Wem die drohenden Blockademanöver Sorgen bereiten, sollte zur Wahl gehen – eine hohe Wahlbeteiligung kann nach den bisherigen Erfahrungen verhindern, dass Extremisten zu viel Einfluss erhalten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte diese Woche in einer Rede in Prag, es stehe viel auf dem Spiel: „Innerhalb unserer EU werden grundlegende demokratische Werte, ja wird das europäische Projekt von verantwortungslosen Populisten infrage gestellt.“ Die Stärke der liberalen Demokratie, ihre Toleranz, sei gleichzeitig ihre verwundbarste Stelle. So mahnte der Bundespräsident mit Blick auf die Europawahl: „Auch innerhalb der Europäischen Union muss in diesem entscheidenden Jahr die Demokratie verteidigt werden.“ In der Demokratie zähle die Beteiligung aller, sagte Steinmeier: „Es ist eher Indifferenz, Gleichgültigkeit, die uns angreifbar macht.“