Brüssel. Vom Corona-Impfstoff über Klima bis Migration: Wer profitiert von zentralen EU-Projekten dieser Wahlperiode, wer verliert?
Endspurt in der Europäischen Union vor der Europawahl am 9. Juni: Nächste Woche tagt das EU-Parlament zum letzten Mal in dieser Wahlperiode, auch die Kommission arbeitet schon im Abkling-Modus. Zeit für eine Bilanz: Was hat die EU in den vergangenen fünf Jahren erreicht? Die fünf wichtigsten Entscheidungen – und wer damit gewonnen oder verloren hat.
Corona: Nicht alles lief gut mit dem Impfstoff
In der Corona-Pandemie spielte die EU anfangs kaum eine Rolle, weil die Mitgliedstaaten den Schutz ihrer Bürger lieber auf eigene Faust organisierten – dann kam die Union durch die gemeinsame Impfstoffbeschaffung doch noch ins Spiel. Allerdings mit Verzögerung, Anfang 2021 warteten EU-Bürger länger als Briten und Amerikaner auf die Covid-Spritze. Es klappte aber doch noch: Fast eine Milliarde Dosen Corona-Impfstoff sind in der EU seit Dezember 2020 gespritzt worden, mehr als 80 Prozent der Erwachsenen sind mindestens einmal geimpft. Bestellt hat die EU sogar 1,5 Milliarden Impfdosen, bis zu 4,6 Milliarden gesichert.
Und: Ein digitaler Covid-Impfausweis ermöglichte globale Mobilität. Die Pandemie ist seit 2022 überstanden, ein Gewinn für alle EU-Bürger. Die Mitgliedstaaten einigten sich auch auf einen gigantischen Wiederaufbaufonds, der die schwer getroffenen Volkswirtschaften mit 800 Milliarden Euro wieder in Schwung bringen soll – erstmals finanziert durch gemeinschaftliche Schulden der 27 Mitgliedsländern.
Nicht nur an den Schulden hat die EU noch lange zu tragen: Inzwischen gibt es heftige Kritik an den noch laufenden Verträgen zum Impfstoff-Kauf, die die Kommission eingefädelt hat – die Mitgliedsländer sitzen auf einem Berg nicht benötigter Dosen, die Milliarden kosten. Verlierer: die Steuerzahler. Die EU-Staatsanwaltschaft ermittelt, und von der Leyen steht unter Druck, weil sie den entscheidenden Deal für 1,8 Milliarden Dosen des Biontech-Impfstoffs angebahnt haben soll, ohne darüber Rechenschaft abzulegen.
Klimaschutz-Paket: Streit geht weiter
Der Klimaschutz sollte eigentlich das Leuchtturmprojekt der EU werden. Die Union beschloss 2021 per Gesetz, dass die EU bis 2050 klimaneutral werden soll. Als Zwischenziel sollen bis Ende des Jahrzehnts die Treibhausgas-Emissionen um 55 Prozent gegenüber 1990 sinken. Die Ziele sind festgelegt, die Umsetzung läuft noch. Insgesamt 34 Gesetze hat die Kommission für den Klima- und Naturschutz des Green Deal vorgelegt und 400 Milliarden Euro an Finanzhilfen bereitgestellt. Die Ausweitung des Emissionshandels ist der zentrale Pfeiler, ergänzt durch eine CO2-Abgabe für Importe aus Drittländern mit weniger Klimaschutz. Eine Reihe von geplanten Vorschriften hat auch viel Ärger verursacht und die Akzeptanz von Klimaschutz gefährdet.
Der Plan zur Gebäudesanierung wurde stark entschärft, unter dem Eindruck der Bauernproteste ruderte die Kommission auch bei Vorschriften für die Landwirtschaft zurück. Stark umstritten ist auch ein Zulassungsverbot für Pkw mit Verbrennermotor ab 2035 – es kommt nach der Wahl wohl noch mal auf den Prüfstand. Gewinner: der Klimaschutz. Verlierer: Industriezweige, die sich nicht rechtzeitig an den Klimaschutz anpassen.
Ukraine-Hilfe: Ein großer Verlierer
Der Ukraine-Krieg hat die EU vor eine beispiellose Probe ihrer Handlungsfähigkeit gestellt, sie hat sie überraschend einig bestanden, aber auch Schwächen offengelegt. Dank guter Vorbereitung durch die Kommission hat die EU auf den Angriffskrieg innerhalb von Tagen mit umfassenden Sanktionspaketen reagiert: ein wichtiges Symbol der Entschlossenheit. Die Wirkung der bis heute 13 Sanktionspakete auf den militärischen Spielraum Russland blieb indes weit hinter den Erwartungen zurück – wegen vieler Lücken im Sanktionsregime und zahlreicher Umgehungsmöglichkeiten für Russland.
Besser liefen die unkomplizierte Aufnahme von über vier Millionen Flüchtlingen über einen besonderen EU-Mechanismus, Exporterleichterungen, internationale Geberkonferenzen und die finanziellen und militärischen Hilfen für die Ukraine: Mehr als 88 Milliarden Euro – davon 28 an militärischer Unterstützung – haben die EU und die Mitgliedstaaten bereitgestellt; die versprochene Lieferung von 1 Million Schuss Munition verzögert sich allerdings. Mit weiteren 50 Milliarden an Krediten und Zuschüssen will die EU die Arbeit der ukrainischen Staatsverwaltung in den nächsten drei Jahren aufrechterhalten.
Im Eiltempo öffnete Brüssel der Ukraine die Tür zur Mitgliedschaft: Schon wenige Monate nach Kriegsbeginn wurde die Ukraine Beitrittskandidat, die Verhandlungen haben allerdings noch nicht begonnen – Ende offen. Alles in allem hat die EU seit der Ukraine-Krise eine selbstbewusste und weitgehend geeinte Rolle auf der Weltbühne gespielt. Einen wichtigen Beitrag hat die EU auch bei den Bemühungen gespielt, Verwerfungen nach der Abkopplung von russischen Gas- und Öllieferungen zu verhindern, etwa durch Reformen des Energiemarktes. Gewinner: die Ukraine und die EU. Verlierer: Russlands Präsident Wladimir Putin, der vergeblich mit der Uneinigkeit der EU kalkuliert hatte.
Migration: Kommen jetzt weniger Asylbewerber?
Schon seit der Flüchtlingskrise 2015 versucht die EU, sich auf ein besseres Management der Migrationsströme zu verständigen. Zum Ende der Wahlperiode und unter dem Eindruck wieder steigender Asylbewerberzahlen hat es endlich geklappt: Das Migrations- und Asylpaket wird Ende April final vom EU-Parlament beschlossen. Kernpunkte sind die bessere Kontrolle der Außengrenzen, Eilverfahren noch an den Grenzen für wahrscheinlich erfolglose Asylbewerber, schnellere Abschiebungen und Pläne für einen Krisenfall.
Zugleich geht es um neue Ansätze für eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen in Europa und Regeln, die den Wechsel von Asylbewerbern von einem zuständigen Mitgliedstaat zu einem anderen (die sogenannte Sekundärmigration) eindämmen sollen. Den Praxistest hat die Reform aber noch vor sich. Vor allem bei der Kooperation mit Drittstaaten und der Organisation der innereuropäischen Solidarität gibt es noch viele Fragezeichen. Gewinner: die EU-Staaten. Verlierer: Asylbewerber ohne Erfolgsaussichten.
Regeln für die digitale Welt
Die EU hat auf Initiative der Kommission eine globale Vorreiterrolle in der Digitalpolitik eingenommen. Das zwingt US-Tech-Konzerne dazu, ihre Produkte auf die besonderen Anforderungen des europäischen Marktes auszurichten. So macht der „Digital Markets Act“ den großen Digitalkonzernen Vorgaben zur Begrenzung ihre Marktmacht, während der „Digital Services Act“ soziale Netzwerke in die Pflicht nimmt, etwa gegen Hass und Desinformation vorzugehen. Und mit dem neuen KI-Gesetz verfügt Europa als erster Kontinent auch über ein Regelwerk für die Anwendung Künstlicher Intelligenz. Gewinner: Verbraucher in Europa. Verlierer: die großen Tech-Unternehmen aus den USA, die ihre Regeln überarbeiten müssen.