Düsseldorf. „Israel hat das Recht zur Selbstverteidigung“, sagt die NRW-Antisemitismusbeauftragte Sabine-Leutheusser-Schnarrenberger(FDP).
Vor sechs Monaten ermordeten Hamas-Terroristen etwa 1200 Frauen, Männer und Kinder in Israel. Kurz darauf begann der Krieg im Gazastreifen, es folgte eine humanitäre Katastrophe. Im Gespräch mit Matthias Korfmann blickt die NRW-Antisemitismusbeauftragte und frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) auf die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023. Die 72-Jährige warnt unter anderem vor einem zunehmenden Antisemitismus in Unis und Kultureinrichtungen.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, im Oktober 2023, kurz nach den Morden der Hamas an israelischen Zivilisten, befürchteten Sie, dass sich die Stimmung in Deutschland drehen könnte, wenn erst viele Bilder von der leidenden Zivilbevölkerung in Gaza zu sehen sind. Hat sich die Stimmung gedreht?
Leutheusser: In den Monaten nach dem Hamas-Angriff war das so. Vor allem in manchen Kultureinrichtungen und Universitäten kippte die Stimmung, und das hat jüdische Studierende stark verunsichert. Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Bei den so genannten Pro-Palästina-Demos beobachten wir eher eine Abschwächung. In den ersten Monaten nach dem 7. Oktober gab es sehr viele Demos in NRW, heute nicht mehr so viele. Die bundesweiten Verbote für Samidoun und für die Betätigung der Hamas haben auch in NRW gewirkt. Aber es gibt zum Beispiel in Münster Organisationen wie „Palästina Antikolonial“, die noch oft zum Protest aufrufen.
Warum sind der Kultur- und der Wissenschaftsbetrieb anfällig für Antisemitismus?
Leutheusser: Die Emotionalität beim Thema Israel und Gaza spielt hier eine Rolle, so dass es schwer ist, sachlich zu streiten. Natürlich soll es an Hochschulen ein breites Meinungsspektrum geben, aber keine Universität kommt an einer klaren Haltung zu Antisemitismus vorbei. Es ist falsch zu glauben, Neutralität sei die richtige Antwort. Und ja, nicht wenige Kultureinrichtungen sind anfällig für Judenfeindlichkeit. Da mag eine alte Einstellung aus linken Kreisen mitschwingen, sich mit Schwächeren zu solidarisieren und Antisemitismus in Kauf zu nehmen. Zum Teil haben es Jüdinnen und Juden heute schwer, von Kultureinrichtungen engagiert zu werden.
Sind die Bilder der Hamas-Opfer in Vergessenheit geraten?
Leutheusser: Zum Teil ist das leider so. Die Bilder, die wir jetzt aus dem Gazastreifen sehen, berühren ebenfalls sehr, und sie müssen gezeigt werden. Die Verbrechen der Hamas dürfen aber nicht zur Seite geschoben werden. Am 7. Oktober wurden an einem Tag so viele Jüdinnen und Juden ermordet wie seit dem Holocaust nicht mehr. Das ist für jüdische Menschen in NRW schockierend. Für sie war Israel immer ein möglicher Zufluchtsort für den Fall, dass das Leben in Deutschland für sie nicht mehr sicher wäre. Dieser Rettungsanker wurde vor sechs Monaten beschädigt. Jüdische Menschen in NRW achten auch sehr darauf, wie sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat verhält. In einer ersten Resolution im Winter wurde der Hamas-Terror nicht ausdrücklich als solcher benannt, und Deutschland enthielt sich. Das hat eine unglaubliche Wirkung in den jüdischen Gemeinden entfaltet. Das Entsetzen war groß.
Wir erleben eine humanitäre Katastrophe in Gaza und sind entsetzt über den Angriff auf die Helfer von World Central Kitchen. Was macht das mit Ihnen?
Leutheusser: Es ist entsetzlich. Israel hat das Recht zur Selbstverteidigung, und in einem Krieg kommt es leider oft vor, dass Zivilisten nach Fehleinschätzungen verletzt oder gar getötet werden. Krieg bedeutet immer fürchterliches Leid. Aber dieser Fehler, der Angriff auf Nothelfer, bewegt mich sehr. Dass diese Retter mit dem Essen, das die Menschen in Gaza dringend benötigen, zurückfahren müssen, zerreißt einem das Herz. Solche Ereignisse können eine antiisraelische Stimmung stark prägen.
Die Regierenden in Deutschland und in NRW betonen, dass sie Antisemitismus nicht dulden. Was ist mit der Zivilgesellschaft? Ist die couragiert genug?
Leutheusser: Die Mehrheitsgesellschaft ist klar gegen Antisemitismus. Da wird auch in den vielen Demos gegen Rechtsextremismus in NRW sichtbar. Das darf nicht nachlassen, denn nur so lässt sich der Antisemitismus wieder etwas einhegen.
Kämpferin für Bürgerrechte
Die Juristin und FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (72) war zweimal Bundesjustizministerin und engagiert sich seit vielen Jahren für Bürger- und Menschenrechte. Sie gehört dem linksliberalen Flügel der FDP an. Einer breiten Öffentlichkeit ist sie seit 1996 bekannt. Damals trat „SLS“, wie sie wegen ihres komplizierten Namens oft genannt wird, aus Protest gegen den von der Bundesregierung beschlossenen „Großen Lauschangriff“ als Justizministerin zurück.
2019 wurde Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zur ersten Antisemitismusbeauftragten des Landes NRW berufen. Sie hat den Rückhalt von CDU, Grünen, SPD und natürlich den der Liberalen.
Wie entwickelt sich die Zahl antisemitischer Straftaten in NRW? Laut der Meldestelle RIAS wurden zwischen dem 7. Oktober und dem 4. Dezember 320 antisemitische Vorfälle gezählt.
Leutheusser: Wir müssen für 2023 mit einem Höchststand an antisemitischen Straftaten in NRW ausgehen. Seit Oktober hat bei antisemitischen Straftaten der Tathintergrund „ausländische oder religiöse Ideologie“ so stark zugenommen wie noch nie. Dazu kam im vergangenen Jahr ein erschreckender Anstieg von antiisraelischen Straftaten wie das Verbrennen von Fahnen.
Darf man das importierten Antisemitismus nennen?
Leutheusser: Das greift zu kurz. Die, die in NRW gegen Israel demonstrieren und Straftaten begehen, sind teilweise auch hier geboren. Es kommen zwar Menschen mit dieser Ideologie zu uns, aber Antisemitismus gab es hier immer schon.
Brauchen wir in NRW ein Lagebild Antisemitismus?
Leutheusser: Seit drei Jahren arbeitet die Antisemitismus-Meldestelle RIAS in NRW. Sie hat wichtige Erkenntnisse für ein Lagebild, das Landeskriminalamt ebenfalls. Und natürlich der Verfassungsschutz. Das sollte schnell in einem gemeinsamen Lagebild aufgehen.
Die Union im Bundestag fordert höhere Strafen bei Antisemitismus. Brauchen wir die?
Leutheusser: Es reicht, wenn wir den heutigen Strafrahmen konsequent ausschöpfen. Es ist nach Paragraf 46 Strafgesetzbuch schon möglich, eine höhere Strafe zu verhängen, wenn eine Straftat antisemitisch motiviert ist. Es drohen sogar Strafen bis zu zehn Jahren. Wenn man den Strafrahmen erhöhen würde, würde das nicht abschreckender wirken. Abschreckung wird bewirkt, wenn Judenfeinde sehen, dass einer aus ihrem Umfeld zu einer Haftstrafe verurteilt wird.
Es gibt auch Forderungen, Menschen, die zwei Nationalitäten haben, den deutschen Pass zu entziehen, wenn sie durch Antisemitismus auffallen, und Antisemiten möglichst gar nicht erst einzubürgern. Was halten Sie davon?
Leutheusser: Die Einbürgerung setzt ein Bekenntnis zur Freiheitlich-demokratischen Grundordnung voraus, und das schließt eine antisemitische Haltung aus. Wir sollten Kandidatinnen und Kandidaten für die deutsche Staatsbürgerschaft besonders sorgfältig prüfen, bevor ein Pass vergeben wird. Hinterher lässt sich das kaum noch korrigieren. Das Entziehen der Staatsangehörigkeit ist rechtlich ein schwieriger Akt.
Ist der Umgang mit Antisemitismus heute Teil der Lehrerausbildung in NRW?
Leutheusser: Noch nicht verpflichtend. Die Kultusministerkonferenz, der Zentralrat der Juden und die Bund-Länder-Kommission Antisemitismus haben beschlossen, dass dieses Thema Teil jeder Lehrerausbildung werden muss. Jetzt geht es um die Umsetzung. Jeder, der Lehrkraft werden möchte -- egal ob in Mathe, Physik, Englisch oder Geschichte -- muss das lernen. Antisemitismus kann in jeder Stunde vorkommen, und eine Lehrkraft muss immer reagieren können.
Kann man Lehrkräften andere Instrumente zur Hand geben?
Leutheusser: Ich möchte, dass es an allen Schulen in NRW Meldeformulare gibt für antisemitische Vorfälle auch unterhalb der Schwelle Straftat. Das würde den Lehrkräften Sicherheit geben. Es gibt bisher keine standardisierte Erfassung solcher Taten an Schulen. Die Ministerien für Bildung und für Integration stimmen sich darüber ab, und ich wünsche mir, dass sie sich schnell einigen. Diese Formulare werden dringend gebraucht.
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