Gelsenkirchen. Noch sind es 49 Euro. Aber der Chef des Verkehrsverbundes VRR, Oliver Wittke, erklärt, warum es dabei nicht bleiben wird.
Kurz vor dem Start der dritten Verhandlungsrunde in NRW um den öffentlichen Nahverkehr warnt der neue Vorstand des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR), Oliver Wittke, vor den möglichen Folgen der Streiks für die Verkehrswende.
„Die Streiks belasten die Branche massiv und die Fahrgäste werden zunehmend verunsichert. Ich kann nur an die Tarifparteien appellieren, sich so schnell wie möglich zu einigen“, sagte Oliver Wittke in seinem ersten Interview nach Amtsantritt gegenüber dieser Redaktion.
VRR-Vorstand Wittke: „Was nutzt ein Jobticket, wenn ich nicht zum Arbeitsplatz komme?“
Arbeitgeber und Gewerkschaften müsse das Ziel einen, möglichst viele Menschen von Bus und Bahn zu überzeugen. „Das schafft man nicht mit Streiks und Verunsicherung. Was nützt ein Studierendenticket, wenn Studierende nicht in die Uni kommen? Was nutzt ein Jobticket, wenn ich nicht zum Arbeitsplatz komme?“, sagte Wittke. Die Tarifparteien sollten mehr darüber nachdenken, wer sie bezahle. Neben den Steuerzahlern seien das die Fahrgäste.
Am Montag und am Dienstag treffen sich die Tarifparteien zu neuen Gesprächen. In den vergangenen Wochen hatte die Gewerkschaft Verdi in NRW bereits zu zwei eintägigen Warnstreiks Anfang und Mitte Februar sowie zu einem zweitägigen Warnstreik Ende Februar/Anfang März im kommunalen Nahverkehr aufgerufen. Außerdem legte die Gewerkschaft GdL wiederholt auch Teile des Bahnverkehrs in NRW lahm.
Neuer VRR-Vorstand: Preiserhöhung beim Deutschlandticket wird kommen
Die rund 1,3 Millionen Besitzer von „Deutschlandtickets“ im Bereich des VRR dürften laut Wittke nicht damit rechnen, dass diese Fahrscheine dauerhaft 49 Euro im Monat kosten werden. „Die Jobs im Nahverkehr müssen ordentlich bezahlt werden. Die Fahrzeuge sollen modern, sauber und sicher, die Verbindungen verlässlich sein. Das hat seinen Preis. Auch die Fahrgäste erwarten in ihren Jobs Gehaltserhöhungen, das kann man den Fahrerinnen und Fahrern von Bussen oder Straßenbahnfahrern nicht verwehren“, sagte er.
Großen Nachholbedarf sieht der frühere Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium noch bei den Jobtickets. Von den 1,3 Millionen Deutschlandtickets im Bereich des VRR seien gerade einmal 99.000 Jobtickets. Der Start dieses günstigen Tickets für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sei „verstolpert“ worden.
Fußball-EM: Ist der Nahverkehr auf so viele Fans aus dem Ausland vorbereitet?
Drei Monate vor dem Beginn der Fußball-Europameisterschaft sieht Wittke den Bahnverkehr in NRW noch nicht fit für das Großereignis. „Die Fußball-EM ist ein Stresstest. Eigentlich wurde zwischen der Bahn und uns vereinbart, dass es während der EM keine Bahn-Baustellen geben sollte, aber da müssen wir nachverhandeln“, sagte Wittke. Zwei Baustellen im Raum Krefeld auf der Direktverbindung zwischen Weeze und Düsseldorf machten ihm Sorgen. „Sie sind ein Risiko, denn Deutschland rechnet mit 80.000 Fans aus England, und die meisten werden auf dem Flughafen in Weeze landen.“
Hier das vollständige Interview mit OliverWittke:
Herr Wittke, wie oft fahren Sie Bus und Bahn?
Oliver Wittke: Ich habe ein Deutschlandticket und bin zuletzt in Berlin und im Ruhrgebiet so viel Bus und Bahn gefahren wie nie zuvor.
Und wie oft haben Sie sich dabei gewünscht, das Auto genommen zu haben?
Oliver Wittke: Nie. In Berlin war meine Alternative zum Nahverkehr das Fahrrad. Im Ruhrgebiet nutze ich manchmal das Auto, wenn sich die Termine drängen. In den Stoßzeiten morgens und abends fahre ich lieber Bahn. Jedes Verkehrsmittel hat seine Berechtigung, aber die Verkehrswende schaffen wir nur mit der Ausweitung des öffentlichen Nahverkehrs.
Sie reden von Verkehrswende. Aber wer mit Bus und Bahn fährt, hat den Eindruck, dass es immer schlimmer wird. Unpünktlichkeit und Ausfälle sind alltäglich.
Oliver Wittke: Jetzt rächen sich die Fehler der Vergangenheit. Es wurde zu wenig investiert in die gesamte Verkehrsinfrastruktur, zum Beispiel in Schienen, Autobahnen und -brücken. Wer den Nahverkehr ausbauen will, muss erst dafür sorgen, dass das, was wir haben, in Ordnung gebracht wird.
Und dafür, dass genügend Personal eingestellt wird, oder?
Oliver Wittke: Nicht nur Verkehrsunternehmen haben Personalmangel. Den gibt es auch in den Gesundheitsberufen, in den Schulen, in den Kitas – überall fehlt Personal. Darum müssen die Arbeitsplätze attraktiver werden, auch finanziell. Damit würden aber auch die Kosten für den ÖPNV weiter steigen. Wir haben es gerade erst noch einmal geschafft, das Deutschlandticket für 49 Euro anzubieten, das ist ein großer Erfolg.
Wie viele 49-Euro-Ticketbesitzer zählt der VRR aktuell?
Oliver Wittke: Wir zählen 1,3 Millionen Kunden in drei Bereichen: Beim Deutschlandticket allgemein, beim Schüler- und beim Studierendenticket. Aber es gibt leider noch eine offene Flanke: das Jobticket.
Was fehlt da?
Oliver Wittke: Da haben wir den Start verstolpert. Wir hätten mit Einführung des Deutschlandtickets auch eine Offensive für das Jobticket starten müssen. Das müssen wir jetzt nachholen, und da müssen auch die Tarifpartner ran. Es wäre schön, wenn bei Tarifverhandlungen nicht nur über Arbeitszeiten und mehr Lohn geredet würde, sondern auch über den Weg zum Arbeitsplatz. Da könnten Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam den ÖPNV stärken. Derzeit gibt es zwei Säulen für die ÖPNV-Finanzierung: die Fahrgastentgelte und die Zuschüsse von Bund, Ländern und Kommunen. Das Jobticket könnte zur dritten Säule werden. Im Moment zählen wir im VRR nur 99.000 Jobtickets bei, wie gesagt, fast 1,3 Millionen Deutschlandticket-Nutzern.
Müsste nicht der öffentliche Dienst beim Jobticket Maßstäbe setzen?
Oliver Wittke: Das geschieht auch. Die meisten Jobtickets in Bereich des VRR wurden in Düsseldorf verkauft, weil dort viele Behörden an diesem Ticket interessiert sind. Wir brauchen aber eine Änderung im Beamtenrecht, denn Zusatzleistungen für Beamte sind eigentlich nicht erlaubt. Der Landtag muss hier für Rechtsklarheit sorgen.
Wird der Preis des 49-Euro-Tickets noch lange stabil bleiben?
Oliver Wittke: Es heißt Deutschlandticket.
Ich rede lieber vom 49 Euro-Ticket, denn wer Deutschlandticket sagt, der meint indirekt auch Preiserhöhungen. Haben Sie keine Angst, dass die Menschen aufs Ticket verzichten, wenn es teurer wird?
Oliver Wittke: Die Jobs im Nahverkehr müssen ordentlich bezahlt werden. Die Fahrzeuge sollen modern, sauber und sicher, die Verbindungen verlässlich sein. Das hat seinen Preis. Auch die Fahrgäste erwarten in ihren Jobs Gehaltserhöhungen, das kann man den Fahrerinnen und Fahrern von Bussen oder Straßenbahnfahrern nicht verwehren. Irgendwann wird der Preis fürs Deutschlandticket steigen müssen.
Wie sehr stressen die Streiks den VRR und die Verkehrsunternehmen?
Oliver Wittke: Die Streiks belasten die Branche massiv und die Fahrgäste werden zunehmend verunsichert.. Ich kann nur an die Tarifparteien appellieren, sich so schnell wie möglich zu einigen. Beide muss das Ziel einen, viele Menschen von Bus und Bahn zu überzeugen. Das schafft man nicht mit Streiks und Verunsicherung. Was nützt ein Studierendenticket, wenn Studierende nicht in die Uni kommen? Was nutzt ein Jobticket, wenn ich nicht zum Arbeitsplatz komme? Die Tarifparteien sollten mehr darüber nachdenken, wer sie bezahlt: Neben den Steuerzahlern sind das die Fahrgäste.
Es heißt, der Nahverkehr in Berlin sei besser als der im Ruhrgebiet. Stimmt das?
Oliver Wittke: Innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings stimmt das. Berlin hat aber nur zwei Zentren – die City-West und die alte Mitte -- die Rhein-Ruhr-Region hat dutzende Zentren, daher ist es hier viel komplizierter.
Wenn Geld keine Rolle spielte – an welchen Stellen im VRR-Bereich sollte es zuerst investiert werden?
Oliver Wittke: Wir müssen die Schienen-Infrastruktur ausbauen, die vielen Langsamfahrstellen beseitigen, wir brauchen schnell das 5. und 6. Gleis zwischen Duisburg und Düsseldorf, denn das ist der größte Flaschenhals im Westen Deutschlands. Schließlich müssen wir die Digitalisierung voranbringen. Ich befürchte, dass sich die Fehler der Vergangenheit – unterschiedliche Spurbreiten und Bahnsteighöhen – bei der Digitalisierung wiederholen könnten. Wir müssen vermeiden, dass unterschiedliche Verkehrsunternehmen unterschiedlich digitalisieren. Wir brauchen da Gemeinsamkeit bis hin zur Auskunfts-App.
Der Nahverkehr in Wien hat europaweit Vorbildcharakter. Ein Erfolgsfaktor ist dort, dass Erlöse aus Parkscheinen, Parkhäusern, Parkuhren und Anwohnerparkausweisen in den Nahverkehrsausbau fließen. Ginge das auch im Ruhrgebiet?
Oliver Wittke: Ich kann mir das grundsätzlich vorstellen. Wir brauchen mehr Fahrgäste im Nahverkehr und haben uns eine Steigerung um 60 Prozent bis 2030 vorgenommen. Ich bin aber dagegen, dass wir Verkehrsträger gegeneinander ausspielen. Wir brauchen sie alle. Wenn wir die Menschen zum Umstieg vom Auto auf die Bahn motivieren wollen, müssen wir mehr Park-and-Ride-Parkplätze bauen. Den dort Parkenden auch noch Geld abzunehmen, wäre kontraproduktiv.
Wie läuft der Ausbau des RRX? Seit Monaten ärgern sich Fahrgäste darüber, dass National Express mit dem RE11 eine der wichtigen Linien durchs Ruhrgebiet kaum noch bedient.
Oliver Wittke: Die Verkehrsunternehmen haben erstens ein Personalproblem, zweitens sind die Krankenstände massiv gestiegen, und die Netze sind zum Teil überlastet. Es kann klüger sein, eine Linie herauszunehmen, dann aber mit anderen Linien zuverlässiger zu fahren. Ein Beispiel bei der S-Bahn: Um Fahrzeug- und Personalproblemen vorzubeugen, ist die S-Bahn-Linie 68 herausgenommen worden, damit auf der S6 und S8 ein zuverlässigerer Verkehr stattfinden kann.
Also haben Sie Verständnis für National Express?
Oliver Wittke: Nur zum Teil. Ein Unternehmen muss darauf achten, dass es genügend Personal hat. Es kann mal wegen einer Grippewelle besondere Engpässe geben, aber das darf kein Dauerzustand werden. Wir als VRR helfen bei Personalsuche und Ausbildung, obwohl das nicht unser Job ist.
Der Fahrgastverband Pro Bahn NRW spricht von einer „Abwärtsspirale“ im Nahverkehr. Das Angebot müsse reduziert werden, um mehr Verlässlichkeit zu erreichen. Sie haben eben selbst angedeutet, dass weniger mehr sein könnte.
Oliver Wittke: Es gibt einen Maßstab, an dem ich mich messen lassen möchte: Die Frage, wie viele Menschen öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Es kann nicht darum gehen, Geisterzüge fahren zu lassen, in denen niemand sitzt. Neulich bin ich in Hamm mit dem RE 3 nach Gelsenkirchen gefahren, und ich war der einzige Fahrgast. Der Grund war, dass der RE3 nicht in der Auskunfts-App auftauchte.
Der Streit zwischen Bund und Ländern um die Finanzierung des 49-Euro-Tickets im Besonderen und des Nahverkehrs allgemein hallt noch nach Was erwarten Sie als VRR vom Land und vom Bund?
Oliver Wittke: Der Bund muss erkennen, dass der ÖPNV-Ausbau Klimaschutz ist, und Klimaschutz ist nicht Aufgabe von Ländern und Kommunen, sondern eine nationale. Daher muss sich der Bund verlässlich weiter an der Finanzierung des Deutschlandtickets beteiligen, und zwar aufwachsend. Die NRW-Landesregierung kündigt in ihrem Koalitionsvertrag den Ausbau des Schnellbusnetzes an. In den vergangenen zwei Jahren wurden im VRR sieben X-Bus-Linien realisiert. Dort, wo es diese Busse schon gibt, werden sie gut angenommen. Sie fahren werktags von 5 bis 23 Uhr im Stundentakt. Vierzehn weitere würden wir gern mit Landeshilfe an den Start bringen, und wir hätten Ideen für mehr als 60 Linien, auch im Ruhrgebiet. Aber es fehlt das Geld. Die Landesregierung sollte ihr Versprechen halten.
Ist der Nahverkehr an Rhein und Ruhr fit für die Fußball-EM?
Oliver Wittke: Die EM ist ein Stresstest. Eigentlich wurde zwischen der Bahn und uns vereinbart, dass es während der EM keine Bahn-Baustellen geben sollte, aber da müssen wir nachverhandeln. Zwei Baustellen im Raum Krefeld auf der Direktverbindung zwischen Weeze und Düsseldorf machen mir Sorgen. Sie sind ein Risiko, denn Deutschland rechnet mit 80.000 Fans aus England, und die meisten werden in Weeze landen.