Hilden. Whatsapp, Google, Amazon -- Der Alltag wird immer digitaler und jene, die noch analog leben, verstehen die Welt nicht mehr.
Bankgeschäfte, Reisebuchung, Termin im Bürgerbüro – analog ist das heute nur mit Schwierigkeiten möglich. Die Digitalisierung des Alltagslebens schreitet immer weiter voran und mit ihr die Zahl der Abgehängten. Wer sich nicht mit Laptop, Tablet und Smartphone anfreunden will oder kann, ist zunehmend verloren. Viele Seniorinnen und Senioren verzweifeln inzwischen an den Hürden, die ihnen der Staat und viele Firmen in den Weg stellen.
Mit dem „Digitalpaten“ an der Seite klappt‘s auch mit Whatsapp
Volkmar Jung (79) entdeckt in seinem Smartphone ungeahnte Möglichkeiten. „Warum sind da zwei Häkchen, und warum sind die blau?“, fragt der Senior seinen „Digitalpaten“ Patrick Kaufhold. Jung probiert zum ersten Mal in seinem Leben WhatsApp aus. Kaufhold zeigt ihm, wie er Text- und Sprachnachrichten sowie Fotos verschicken kann. „Das ist ja unheimlich“, staunt der „Schüler“ mit dem weißen Schnäuzer. Das Werkzeug WhatsApp gefällt ihm, weil es Kommunikation so einfach macht.
Am Nachbartisch betreut „Digitalpate“ Klaus Breit (63), früher IT-Experte bei Bayer, einen Herrn, der seine Computerfragen auf einen Zettel geschrieben hat. „Was ist eine Cloud?“, will der Ratsuchende zum Beispiel wissen. Und wie er ein neues Google-Passwort anfordern kann, denn das alte hat er leider vergessen.
Die digitalisierte Welt lässt in NRW Hunderttausende außen vor
Für die im Schnitt etwa 15 meist älteren Damen und Herren, die mittwochs morgens zur Sprechstunde der „Digitalpaten“ in die Stadtbibliothek Hilden kommen, sind Menschen wie Klaus Breit und Patrick Kaufhold Helden. Sie bauen ihnen Brücken in eine digitalisierte Welt, in denen sie sich allein hoffnungslos verlaufen würden. Klaus Breit erzählt von einer Dame, die ein ausgedrucktes Ticket zum Flughafen mitnehmen wollte, weil sie einem digitalen Flugticket nicht traut. Doch ihr Drucker streikte, und sie befürchtete, nicht in den Flieger zu dürfen.
Digitale Barrieren sind ähnlich schwer zu überwinden wie analoge, wissen die rund 80 „Digitalpaten“ aus dem Kreis Mettmann. Fahrpläne auf Papier gibt’s nicht mehr, viele Mediziner vergeben ihre Termine online, und eine Überweisung bei der Bank wird mit der „Zwei-Faktor-Authentifizierung“ für viele undurchführbar.
„Laut dem Statistischen Bundesamt waren 17 Prozent der 65 bis 74 Jahre alten Bürgerinnen und Bürger noch nie im Internet. Bezogen auf NRW wären dies 325.500 Menschen“, sagt Erwin Knebel, der Vater des Vorzeige-Projektes „Digitalpaten“. Knebel engagiert sich im Verwaltungsrat der Verbraucherzentrale NRW und war früher Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt am Niederrhein. Der 74-Jährige ist ein Kümmerer alter Schule, hat schon „Verbraucherscout“- und „Pflegescout“-Initiativen gegründet und hilft jetzt jedem, der Hilfe benötigt, über die „Digitalpaten“ ins Internet.
„Offliner“ sind gar nicht so selten
Ob digitales Deutschlandticket, Terminbuchungen oder Überweisungen – viele Dienstleistungen werden (fast) nur noch online angeboten. Für Menschen ohne Internet wird der Alltag zunehmend schwieriger zu bewältigen. Knapp 6 Prozent der Menschen im Alter zwischen 16 und 74 Jahren waren im Jahr 2022 in Deutschland sogenannte Offliner – sie hatten noch nie das Internet genutzt. Das entspricht knapp 3,4 Millionen Menschen in Deutschland, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt.
Am größten war laut Destatis der Anteil derer, die das Internet noch nie genutzt haben, in der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen: Hier war gut ein Sechstel (17 Prozent) offline. In der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen hatten fünf Prozent das Internet noch nie genutzt. Bei den unter 45-Jährigen gab es noch zwei Prozent Offliner.
Knebel nennt eine andere Zahl, die aus einer Untersuchung der „Initiative D21“ stammt. Demnach nutzten mehr als 30 Prozent der Über 70-Jährigen nie das Internet. Das, sagt Knebel, würde in NRW fast eine Million Menschen betreffen.
„Sie sind in einer analogen Welt aufgewachsen und haben sich dabei wohl gefühlt“
„Viele Seniorinnen und Senioren haben in ihrer Kindheit die Volksschule besucht und keinen oder nur spärlichen Englischunterricht gehabt. Die meisten wissen nichts mit den englischen Bezeichnungen in der digitalen Welt anzufangen“, erklärt Knebel. „Sie sind in der analogen Welt aufgewachsen, haben ihr Leben analog gelebt und sich dabei wohlgefühlt.“
Was Knebel ärgert: „Der Staat bieten Kindern und Jugendlichen aus gutem Grund Medienscouts an, aber für Ältere, die gar keine digitalen Vorkenntnisse haben, gibt es praktisch kein staatliche Unterstützung.“ Um die Seniorinnen und Senioren, die an der Digitalisierung verzweifeln, kümmerten sich im Grunde nur Ehrenamtler. Dabei sei die Nachfrage nach Unterstützung riesig.
Es gibt zwar den „Digitalcheck NRW“, mit dem Bürgerinnen und Bürger das eigene digitale Wissen testen und Weiterbildungsangebote in ihrer Nähe finden können. „Aber dafür muss man erstmal in der Lage sein, ins Internet zu gehen und sich auf den entsprechenden Seiten zu bewegen“, erklärt Knebel. Für hunderttausende Menschen in NRW sei diese Hürde schon zu hoch.
Die NRW-Landespolitik hat das Problem auf dem Schirm, muss aber noch handeln
Dass es an dieser Stelle eine dramatische Angebotslücke gibt, weiß auch NRW-Digitalisierungsministerin Ina Scharrenbach (CDU). Im Interview mit dieser Redaktion sagte sie: „Im Grunde müsste es mehr Schulungen geben. Das Vertrauen gerade älterer Menschen in Digitalisierung ist zu klein. Die Angst, etwas falsch zu machen, dagegen groß.“
Die SPD-Opposition hat das Thema auf dem Schirm und fordert die NRW-Regierung zum Handeln auf. „Die Digitalisierung bietet für ältere Menschen vielfältige Chancen, Selbstständigkeit zu erhalten, Teilhabe zu fördern und damit zu einem würdevollen und selbstbestimmten Altern beizutragen. Dennoch gehören ältere Menschen zumeist zu den Gruppen, die von den Vorteilen der Digitalisierung nicht profitieren können. Das darf nicht sein“, sagt die Mendener SPD-Landtagsabgeordnete Inge Blask dieser Redaktion. „Die schwarz-grüne Landesregierung muss hier endlich tätig werden, Bedarfe repräsentativ ermitteln und ältere Menschen niedrigschwellig unterstützen“, so Blask weiter.
Dringend weiter nötig: Ein „Plan B“, wenn es digital nicht klappt
Ihre Fraktion fordert unter anderem, digitale Lernorte zu fördern, Digitalassistenz zum Teil der Pflegeleistungen zu machen sowie das Recht auf assistierte Internetnutzung in Pflegeheimen.
„Digitalpate“ Klaus Breit aus Hilden fordert, all jenen, die mit der Digitalisierung nicht zurechtkommen, stets einen analogen „Plan B“ offen zu halten. Es müsse in Behörden und Firmen immer eine Alternative zur digitalen Welt geben. „Ich war zwar im Berufsleben IT-Experte in einem großen Konzern. Aber in zehn Jahren werde auch ich nicht mehr alles können.“
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