Berlin. Die Ampel will die Steuerklassen 3 und 5 abschaffen. Zu Recht? Wirtschaftsweise Grimm hat eine klare Meinung zum Ehegattensplitting.

Veronika Grimm ist eine der „Fünf Weisen“, die die Bundesregierung in Wirtschaftsfragen beraten. Seit dieser Woche gehört die Nürnberger Ökonomieprofessorin auch dem Aufsichtsrat der Siemens Energy AG an. Sind Interessenkonflikte vorprogrammiert? Im ersten Interview nach ihrer Wahl gibt Grimm ungewöhnliche Einblicke in den Sachverständigenrat. Sie sagt auch, warum die Rente mit 63 nur noch Menschen offenstehen soll, deren Gesundheit gefährdet ist.

Frau Grimm, Sie sind in den Aufsichtsrat von Siemens Energy gewählt worden. Wie wirkt sich das auf Ihre Tätigkeit als Regierungsberaterin aus?

Veronika Grimm: Ich bin als unabhängige Wissenschaftlerin Mitglied des Sachverständigenrats und werde diese Aufgabe auch weiterhin gewissenhaft wahrnehmen. Ich werde mich – auf Basis meiner wissenschaftlichen Expertise und vor allem auf Basis von nachvollziehbaren Argumenten – wie bisher zu wirtschaftspolitischen Themen äußern. Der Aufsichtsrat einer deutschen Aktiengesellschaft ist, wie der Name schon sagt, nur für die Aufsicht zuständig – nicht operativ. Es gibt übrigens verschiedenste Funktionen, auch in der Wirtschaft, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland aktiv sind. Das ist auch gut so, weil man so aus dem Glaskasten herauskommt und die Einschätzung von Sachverhalten geschärft wird. Wichtig ist dabei die Transparenz.

Werden Sie sich bei Energiethemen zurückhalten?

Natürlich werde ich mich in dieser Doppelfunktion nicht zu Angelegenheiten öffentlich positionieren, die das Unternehmen direkt betreffen.

Die anderen vier Mitglieder des Sachverständigenrats sehen Interessenkollisionen – und drängen Sie, das Gremium zu verlassen. Beeindruckt Sie das nicht?

Ich werde meine Aufgaben im Rat weiterhin gewissenhaft erfüllen. Ich habe prüfen lassen, ob das Aufsichtsratsmandat kompatibel mit meiner Aufgabe im Sachverständigenrat ist, und auch bei Siemens Energy gab es eine Compliance-Prüfung. Resultat: Es gab nichts zu beanstanden. Ich bin auch nicht die Erste, die parallel zur Mitgliedschaft im Sachverständigenrat einem Aufsichtsrat angehört. In der Vergangenheit wurde damit im Rat kooperativ und gewissenhaft umgegangen, und ich habe das Vertrauen in uns, dass wir das auch hinbekommen. Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen schon im vergangenen Jahr über die Nominierung für den Aufsichtsrat informiert und das Gespräch dazu angeboten. Meine Auffassung war und ist, dass wir mögliche Fragen intern klären müssen.

Die Mail, in der Sie von Ihren Kolleginnen und Kollegen zum Rückzug aufgefordert wurden, ging in CC auch an Wirtschaftsminister Robert Habeck und Wolfgang Schmidt, Chef des Bundeskanzleramts. Wie ordnen Sie das ein? Als Mobbing?

Die Kolleginnen und Kollegen haben diese Entscheidung selbst getroffen. Ich kommentiere das nicht.

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Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Vorsitzenden Monika Schnitzer beschreiben?

Das tut nichts zur Sache. Es kommt darauf an, dass wir unsere Aufgaben im Rat gewissenhaft wahrnehmen. Wir sind jeweils für fünf Jahre berufen und können nicht abberufen werden. Das stellt in besonderem Maße die Unabhängigkeit jeder und jedes Einzelnen sicher. Die Vorsitzende hat in dieser Situation die Rolle, trotz der unterschiedlichen Sichtweisen alle wieder zusammenzubringen. Das kann auch einmal herausfordernd sein.

Können die Wirtschaftsweisen nach diesem Zerwürfnis weitermachen, als sei nichts geschehen?

Der Sachverständigenrat ging in seiner 60-jährigen Geschichte immer wieder durch unruhige Zeiten. Er ist ja auf Auseinandersetzung angelegt. Ein Mitglied wird von den Gewerkschaften nominiert, ein anderes von den Arbeitgeberverbänden …

… aber der Streit war nicht immer so persönlich.

Es ging immer wieder ans Eingemachte. So hat sich etwa Wolfgang Wiegard im Jahr 2005 nach einer turbulenten und vermutlich wenig harmonischen Phase vom Vorsitz zurückgezogen, ist aber im Sachverständigenrat verblieben. Vergnügungssteuerpflichtig war das damals sicherlich auch nicht. Es ist ein Privileg, dem Sachverständigenrat anzugehören. Aber man muss auch ein dickes Fell haben.

Sie haben das?

Schon. Bei Politikerinnen und Politikern fragt man auch nicht dauernd, ob sie robust genug für die ganzen Auseinandersetzungen sind. Man erwartet, dass sie damit klarkommen. Die im Sachverständigenrat angelegte Vielfalt verlangt den Mitgliedern einiges ab: Jedes Kapitel, das wir schreiben, muss von allen unterzeichnet und somit mitgetragen werden. Wer einzelne Inhalte nicht teilt, bringt dies in einem Minderheitsvotum zum Ausdruck.

Das heißt übrigens: Niemand kann die Ratsmeinung ohne gute Argumente beeinflussen. Jeder muss sich in alle Themen einarbeiten, die Diskussionen sind oft kontrovers. Wenn alle Ratsmitglieder inhaltlich konvergieren, ist das ein starkes Signal. Das gelingt uns – gerade wegen der aufreibenden und zeitaufwändigen Diskussionen – übrigens meistens.

Die Ampelkoalition streitet aktuell über den Haushalt. Woher soll das Geld kommen, das die Bundeswehr braucht, um ihre Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen?

Das Sondervermögen reicht ungefähr für vier Jahre. Immer neue Sondervermögen sind aber keine Lösung. Man sollte anstreben, das Geld für die Bundeswehr auf Dauer aus dem laufenden Haushalt aufzubringen.

Was bedeutet das für den Sozialetat und seinen größten Posten, die Rente?

Wir müssen das Rentensystem tragfähig aufstellen. Das ist bisher nicht gelungen, im Gegenteil: In den vergangenen Jahren wurden viele Rentengeschenke verteilt. Der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung ist nicht zuletzt deshalb zwischen 2003 und 2021 von 77 auf 112 Milliarden jährlich angestiegen. Jetzt steht der Renteneintritt der Babyboomer-Generation bevor. Der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung steigt so weiter an und nimmt immer mehr Spielräume im Haushalt. Eine wichtige Stellschraube ist daher, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung anzupassen.

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Plädieren Sie für einen Renteneintritt erst mit 70?

Wir schlagen eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die fernere Lebenserwartung vor. Bis 2031 steigt das Rentenalter ohnehin auf 67 Jahre. Danach würde man – entsprechend der prognostizierten Lebenserwartung – alle zehn Jahre acht Monate länger arbeiten. Bei der Rente mit 70 ist man da noch lange nicht.

Was soll aus der Rente mit 63 werden?

Die Rente mit 63 sollte zumindest eingeschränkt werden. Sie schafft für viele einen Anreiz, früher in den Ruhestand zu gehen – ob mit oder ohne Abschläge. Vor allem Gutverdiener machen davon Gebrauch. Das verschärft den Fachkräftemangel. Ein frühzeitiger Renteneintritt ohne Abschläge sollte dann möglich sein, wenn es gesundheitliche Gründe gibt.

Der Staat könnte auch mehr Schulden machen, um die Rentenkasse zu füllen. Ist die Schuldenbremse in Stein gemeißelt?

Der Sachverständigenrat hat zuletzt in seinem Policy Brief zur Schuldenbremse gezeigt, dass wir Spielräume haben. Man könnte die Schuldenbremse dahingehend lockern, dass man bei niedrigen Staatsschuldenständen etwas mehr strukturelle Verschuldung zulässt. Wenn man aber will, dass künftige Generationen genauso kraftvoll auf Krisen reagieren können, wie wir das in der Corona-Pandemie und der Energiekrise getan haben, sind die Spielräume nicht so hoch: zwischen 5 und 20 Milliarden pro Jahr. Strukturreformen, Abbau von Subventionen und ein Fokus auf eine wachstumsfördernde Wirtschaftspolitik – um all das kommen wir nicht herum.

Apropos Wachstum: Korrigieren auch die Wirtschaftsweisen ihre Prognose nach unten?

Wir werden Mitte Mai unser Konjunkturupdate vorlegen. Wir hatten 0,7 Prozent Wachstum für das laufende Jahr prognostiziert, das lässt sich vermutlich nicht halten. Wir sind in einer Stagnationsphase, und die ungünstige Demografie reduziert unser Wachstumspotential in den kommenden Jahren deutlich. Wenn wir die Herausforderungen meistern und das Wachstum steigern wollen, wird das der Gesellschaft, insbesondere den Leistungsfähigen, viel abverlangen. Diese Kommunikation findet in der Politik bisher leider nicht so statt.

Die Wirtschaft vermisst ein Aufbruchssignal. Wie könnte es aussehen?

Man muss ein attraktives Umfeld für innovative Unternehmen schaffen. Dazu gehören genügend und gut qualifizierte Fachkräfte, weniger Bürokratie und niedrigere Steuern. Der zunehmende Rechtsextremismus in Deutschland ist eine Bedrohung für unsere Wachstumschancen. Fachkräfte aus dem Ausland werden abgeschreckt. Und was Steuererleichterungen betrifft, geht das geplante Wachstumschancengesetz nicht weit genug. Für mutigere Schritte fehlt politisch die Kraft.

Wer sollte alles von Steuererleichterungen profitieren?

Steuern und Abgaben sollten grundlegend auf den Prüfstand. Die nächste Bundesregierung sollte eine größere Steuerreform in Angriff nehmen, die auch die Einkommensteuer umfasst. Es geht nicht zuletzt um eine Vereinfachung des Steuersystems. Aber das ist ein dickes Brett.

Die Ampel hat sich vorgenommen, die Steuerklassen 3 und 5 abzuschaffen. Hilft das?

Ja. Das bisherige System macht es für den Ehepartner mit dem geringeren Einkommen unattraktiver, zu arbeiten – meist ist das die Frau. Durch die Abschaffung der Steuerklassen 3 und 5 kommt direkt mehr vom Lohn auf dem Konto an – psychologisch ein wichtiger Faktor. Man sollte aber einen Schritt weitergehen und das Ehegattensplitting reformieren, um die Arbeitsanreize für Frauen zu erhöhen.