Berlin. Wenn auf Trumps Amerika kein Verlass mehr ist, braucht Europa eine eigene Abschreckungsstrategie gegenüber Putin – mit Atomwaffen?
Abschreckung ist eigentlich eine Glaubensfrage. Die Nato-Beistandsgarantie im Grunde auch. Wenn ein Partner angegriffen wird, eilen ihm die anderen im Bündnis zur Hilfe – die USA in letzter Konsequenz mit ihren Atomwaffen.
Es ist eine Verpflichtung. Aber niemand hat eine Garantie dafür. Keiner möchte den Realitätstest je erleben. Aber vielen in Europa wird nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine klar, dass sie ohne die USA und ohne eigene Atomstreitkräfte erpressbar werden könnten.
Russland erzeugt Druck: Das Rendezvous der SPD mit der Wirklichkeit
Dass mit der Europa-Spitzenkandidatin Katharina Barley eine Sozialdemokratin erklärte, die Atombombe könne „ein Thema werden“, ist eine Ironie. Für die SPD, insbesondere für ihren Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, waren die letzten zwei Jahre seit Ausbruch des Ukraine-Krieges ein Rendezvous mit der Wirklichkeit.
Jahrelang hatten viele Sozialdemokraten gefordert, sogar alle US-Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen und die „nukleare Teilhabe“ in der Nato zu beenden. Diese Teilhabe bestand darin, dass Kampfjets der Bundeswehr im Kriegsfall amerikanische Atomwaffen transportieren.
EU: Forderungen nach einer strategischen Autonomie Europas
Weil die Atomfrage in Berlin ein vermintes Feld ist, kamen die ersten Denkanstöße wohl nicht zufällig von außerhalb der Politik. Der renommierte Politologe Herfried Münkler rief Ende letzten Jahres im „Stern“ Europa zu einer atomaren Aufrüstung auf.
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Zum Jahreswechsel ging der frühere Außenminister Joschka Fischer darauf ein. „Wir müssen unsere Abschreckungsfähigkeit wiederherstellen“, sagte er „Zeit Online“. Zwar gefalle ihm der Gedanke daran „überhaupt nicht“, aber es führe kein Weg daran vorbei.
Frankreich hat Teilhabe am Nukleararsenal angeboten
Fischer argumentierte mit der russischen Bedrohung, Münkler mit einer möglichen Abkehr der Amerikaner. Gut möglich, dass auf sie kein Verlass wäre, wenn Donald Trump noch einmal Präsident werden sollte.
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„Die europäische Atombombe wäre ein entscheidender Schritt hin zu einer strategischen Autonomie und zu einer eigenen Abschreckungskraft“, setzte Münkler Anfang 2024 in dem Interview mit der „Welt“ nach. Operativ gäbe es dazu drei Möglichkeiten.
- Die Europäer bauen eigene Kapazitäten auf.
- Frankreich stellt seine „Force de Frappe“ in den Dienst Europas.
- Großbritannien und Frankreich bieten ihre Atomwaffen den Nato-Partnern an.
Beide haben zusammen schätzungsweise über 500 Gefechtsköpfe, verteilt auf je vier U-Boote, wobei Frankreich zudem über Bomber verfügt, die mit Nuklearwaffen bestückt werden können. Es wäre nur ein Bruchteil des russischen Arsenals. Aber Russland würde im äußersten Fall auf deutliche Gegenwehr stoßen.
Atombomben: Wer bekommt den Koffer mit dem roten Knopf?
Bereits 2007 hat Frankreich den Deutschen eine Teilhabe am Nukleararsenal angeboten. Die unausgesprochene Formel lautete: Die Franzosen stellen die nukleare Abschreckung, Deutschland das Geld zur fälligen Modernisierung.
Das Arrangement ist nie durchgespielt und auf seine Praxistauglichkeit getestet worden. Deutschland wollte keine Atomwaffen und hat nie überprüft, ob der französische Präsident bereit wäre, auch die Entscheidungsgewalt zu teilen.
Der damalige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, forderte, die nuklearen Einsatzoptionen Frankreichs sollten „nicht nur das eigene Territorium, sondern auch das Territorium der EU-Partner mit abdecken“. Mit Klaus Naumann ließ sich sogar ein ehemaliger Generalinspekteur auf das Gedankenexperiment ein. Aber da blieb die Debatte dann auch stecken: in Fachkreisen.
Wenn Trump Präsident wird und Putin den Krieg gewinnt
Zuletzt schlug Münkler vor, dass Frankreich, Deutschland, Polen, Spanien und Italien sich die Entscheidungsgewalt über Atomwaffen teilen. „Der Koffer mit dem roten Knopf zirkuliert zwischen den genannten Staaten.“ Die jüngsten Äußerungen von Donald Trump machten klar, dass der atomare Schutz durch die USA nicht mehr selbstverständlich ist.
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Bundesfinanzminister Christian Lindner zeigte sich offen für eine gemeinsame nukleare Bewaffnung in Europa. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hatte am Montag nach einem Treffen mit Kanzler Olaf Scholz gesagt, dass man das Angebot des französischen Präsidenten zu einer möglichen Europäisierung der Atomwaffen „wirklich ernst“ nehmen solle.
Zum Schwur dürfte es erst kommen, sollte Trump Ende des Jahres die US-Präsidentschaftswahl gewinnen und wenn gleichzeitig die Ukraine den Krieg verlöre. Dann wird die nukleare Option wohl ernsthaft ins Auge gefasst. Viele in Europa trauen Kremlchef Wladimir Putin alles zu. Auch eine nukleare Erpressung.
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