Washington. Vom Zauderer zum Tempomacher: Bei seinem dritten Besuch im Weißen Haus hat Olaf Scholz einen erstaunlichen Rollentausch vollzogen.
Wenn Olaf Scholz versucht gewesen sein sollte, nach neun Stunden Flug aus Berlin bei Krabben-Salat, Pilz-Süppchen, Barsch mit Dill-Kartoffel-Gratin und Schokoladenkuchen in die Gedankenwelt Donald Trumps vorzudringen, dann war der Sitznachbar zu seiner Rechten in der Deutschen Botschaft in Washington am Donnerstagabend ideal.
Lindsey Graham, republikanischer Senator aus South Carolina, ist der Trump-Übersetzer im US-Kongress. Was immer der aussichtsreichste republikanische Kandidat für die Präsidentschaftswahl im November verzapft, Graham biegt es irgendwie gerade. Ob der Bundeskanzler vor seiner Visite am Freitagnachmittag im Weißen Haus bei Präsident Joe Biden die Gelegenheit genutzt hat, um via Graham Trumps Blockade-Wut gegen weitere Militärhilfen der USA in Höhe von 60 Milliarden Dollar für die Ukraine zu ergründen, ist nicht überliefert.
Offensichtlich ist, dass der deutsche Regierungschef, der 2022 zum ersten Mal in dieser Funktion in der US-Hauptstadt war, einen Rollenwechsel vollzogen hat. Vom anfänglichen Bedenkenträger und Zauderer, was die militärische und strategische Antwort auf Wladimir Putins Angriffskrieg angeht, zum Mahner, Antreiber, ja Tempo-Macher. Zur Führungsfigur in Europa.
Scholz: US-Präsident Joe Biden hat nur eine Stunde Zeit für den Kanzlerbesuch
Dass die Militärhilfen für die Ukraine weitergehen müssen, und zwar schnell, ist für Scholz Gesetz. Für die Begründung hat er sich vor dem auf circa eine Stunde terminierten Gespräch mit Biden im Oval Office einen bei konservativen Köpfen beliebten Ideen-Abwurfplatz ausgesucht: das „Wall Street Journal”. Dort führte der deutsche Staatsmann in einem Namens-Artikel aus, dass ein russischer Sieg „nicht nur das Ende der Ukraine als freier, demokratischer und unabhängiger Staat bedeuten würde, sondern auch das Antlitz Europas dramatisch verändern würde“. Mehr noch: „Russlands brutaler Versuch des gewaltsamen Landraubs könnte anderen autoritären Herrschern überall auf der Welt als Vorbild dienen. Weitere Länder würden Gefahr laufen, einem räuberischen Nachbarn zum Opfer zu fallen.“
Die finanziellen Aspekte setzt der ehemalige Finanzminister in diese Relation: „Wenn Putins Aggression nicht Einhalt geboten wird, würden die langfristigen Konsequenzen und Kosten alle unsere heutigen Investitionen bei Weitem übersteigen.“ In diesem Kontext ein Seitenhieb auf das gehypte Putin-Interview mit dem US-Polit-Showmaster Tucker Carlson. Scholz sieht darin „nur verhöhnt, was an realen Taten von Russland in der Ukraine gemacht worden ist”. Putins Herleitung der Ursachen des Kriegs befremdet ihn. Der Kreml-Herrscher wolle sich einen Teil der Ukraine einverleiben. „Das genau ist der Zweck seiner imperialistischen Bestrebungen.”
Scholz‘ dritte Visite als Kanzler in der US-Hauptstadt kommt zu einem heiklen Zeitpunkt. Der Präsidentschaftswahlkampf hat die Grabenkämpfe in Washington zwischen Demokraten und Republikanern turbomäßig beschleunigt. Der von ihm überaus geschätzte Amtsinhaber ist trotz guter ökonomischer Eckdaten angeschlagen. Umfragen sehen Joe Biden gegenüber seinem mutmaßlichen Kontrahenten Donald Trump im Hintertreffen. Und der gehässig abgefasste Bericht eines Sonder-Ermittlers des Justizministeriums hat Zweifel an der mentalen Stabilität des 81-Jährigen in neue Höhen katapultiert.
Biden: Für Scholz ist die persönliche Vertrauensebene wichtig
Es dürfte dem Gastgeber darum eine Wohltat sein, dass der Kanzler nicht an der geistigen Belastbarkeit des Präsidenten zweifelt. Biden steht bei Scholz haushoch im Kurs. Er bescheinigt ihm eine klare Sicht auf die Welt. Und die nötige Willenskraft zur Gestaltung. Optische Unzulänglichkeiten, Bidens Alterssteife, hält er für vernachlässigenswert. Ebenso Versprecher und Verwechsler, die Biden zuweilen selbst noch korrigiert. Für Scholz ist die persönliche Vertrauensebene wichtig. Darum die regelmäßigen Besuche. Dass Deutschland in den USA, so hört man es in Washingtoner Regierungskreisen häufig, eine „zuverlässige Bank” sei, sieht der Hanseat auch als sein Verdienst.
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Aber auch das hat Grenzen. Im Kongress zeichnet sich ab, dass das von Joe Biden vor Monaten versprochene 60 Milliarden Dollar-Hilfspaket für die Ukraine in der Sackgasse steckt. Dahinter steht Kandidat Trump, der seine Republikaner auch ohne offizielles Amt mit eisernem Griff fernsteuert. Mike Johnson, der neue republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, könnte die Blockade brechen, müsste dazu aber zum politischen Selbstmord bereit sein. Ließe er eine Abstimmung zu (im Senat stehen die Zeichen bereits auf Zustimmung), wäre eine parteiübergreifende Mehrheit pro Ukraine wahrscheinlich. Allerdings müsste Johnson damit rechnen, von Trump-loyalen Radikalen wie Marjorie Taylor Greene & Co. weggeputscht zu werden.
Bundeskanzler: Selbstbewusster Auftritt in Washington
Olaf Scholz kann das nicht beeinflussen. Aber er will mit einiger Zuversicht „sehr helfen”, dass die rasche Bewilligung der von Biden avisierten Gelder gelingt. Darum appelliert er selbstbewusst mit Zahlen. Danach haben die Mitglieder der Europäischen Union der Ukraine bisher rund 85 Milliarden Euro bereitgestellt, Deutschland allein fast 30 Milliarden. Zusammen mit der gerade in Brüssel beschlossenen Anschlussfinanzierung in Höhe von 50 Milliarden Euro sei ein Fundament gelegt. „Aber ohne den Beitrag der Vereinigten Staaten von Amerika”, so der Kanzler, „wäre die Situation für die Ukraine sehr, sehr schwierig.”
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