Berlin. Kerstin Claus beschreibt, wie Täter bei Missbrauch gezielt in Einrichtungen vorgehen – und erzählt, wann Eltern alarmiert sein sollten.

Es sind bittere Tage für die Kirche. Eine umfangreiche Studie belegt, wie junge Menschen missbraucht wurden, die Betroffenen waren im Durchschnitt elf Jahre alt. Nach dem Konfirmanden-Unterricht, auf der Jugendfahrt, im Pfarrhaus. Die Evangelische Kirche Deutschland erlebt das, was die Katholiken schon vor Jahren erfuhren: Durch Druck von außen bricht der Mythos von der Unschuld.

Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Kerstin Claus, wirft der Kirche im Interview mit unserer Redaktion vor, sie habe die Not von Menschen massiv ausgenutzt. Zugleich verlangt Claus Konsequenzen: Meldestellen, Ombudsstellen, Anerkennungszahlungen.

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Doch die Missbrauchsbeauftragte sagt auch: Sexualisierte Gewalt passiert überall dort, wo Täter ein Machtgefälle und ungeschützte Räume gezielt ausnutzen. Das kann die Kirche sein, die Kita, die Schule. Kerstin Claus sieht klare Warnzeichen, wann bei Eltern die Alarmglocken schrillen sollten.

Eine Studie bringt erstmals Daten zu Missbrauchsfällen in der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) ans Licht. Es könnten bis zu 10.000 Menschen betroffen sein. Die Täter: Pfarrer, Erzieher, Jugendleiter. Was hat sie am meisten schockiert?

Kerstin Claus: Es ist erschreckend, auf wie viel Widerstand Betroffene von Missbrauch auch in der evangelischen Kirche gestoßen sind. Eine Institution, die noch immer keine klaren Verfahren zur Aufdeckung von Gewalt eingeführt hat, und in der es einheitliche Standards zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt ganz dringend braucht. Betroffene wussten nicht, an wen sie sich in der Kirche oder extern wenden sollten. Sie wurden abgewiesen, ihnen wurde nicht geglaubt.

Der Forschungsverbund „ForuM. Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ veröffentlicht Ende Januar Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien zu sexualisierter Gewalt und Missbrauch der evangelischen Kirche.
Der Forschungsverbund „ForuM. Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ veröffentlicht Ende Januar Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien zu sexualisierter Gewalt und Missbrauch der evangelischen Kirche. © dpa | Julian Stratenschulte

Wir kannten vor allem Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Was bleibt von der Erzählung der EKD von der „besseren Kirche“?

Das Bild der „besseren Kirche“ hat nie gestimmt. Alle, die sich mit Missbrauch beschäftigen, wissen: Machtgefälle und abgeschottete Vertrauensräume oder auch bewusst gelebte Liberalität sind ideale Voraussetzungen für Missbrauch. Das kann in der katholischen Kirche durch den Zölibat und die Sexualmoral begünstigt sein. In der evangelischen Kirche sind es andere Faktoren, etwa die herausgehobene Position des Pfarrers für die gesamte Gemeinde und einzelne Familien, die auf Partizipation angelegte Jugendarbeit oder das besondere Näheverhältnis in der Seelsorge, die Grenzüberschreitungen begünstigt haben. Die Kirche ist ein Raum, in dem Menschen Rat suchen oder in Not kommen. Diese Bedürftigkeit wurde durch die Kirche massiv ausgenutzt.

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Missbrauch hat es laut der Studie auch im Pfarrhaus gegeben.

Das ganze Bild des Pfarrhauses steht für das geschlossene System Kirche, in dem Privates und Berufliches gefährlich vermischt sind. Die Pfarrfamilie hat in einer Gemeinde eine unglaublich große Bedeutung, das macht es für Betroffene, die Missbrauch dort erlebten, sehr schwer, diese Familie öffentlich zur Rechenschaft zu ziehen.

Welche Konsequenzen fordern Sie in der Kirche?

Die Studie macht sichtbar, dass die Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche keine Einzelfälle sind. Genau das aber wurde den Betroffenen immer von Seiten der Kirche erzählt. Erschreckend ist, dass sich die Kirche immer noch wehrt gegen Meldestellen, externe Hilfeangebote und Aufklärung, weil sich Verantwortliche angeblich unter Generalverdacht gestellt fühlen. Die Kirche braucht aber die von den Forschern klar empfohlenen und von Betroffenen schon lange geforderten unabhängigen Meldestellen und Ombudsstellen, damit Betroffene sich melden und auch miteinander in Verbindung treten können. Die evangelische Kirche zieht sich beim Umgang mit sexualisierter Gewalt in Kirchengremien zurück, vieles bleibt im Dunkeln für die Öffentlichkeit. Das ist Hinterzimmer-Politik, und davon muss sich die Kirche verabschieden. Bischöfe müssen endlich Rede und Antwort stehen.

Unter Druck: Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD.
Unter Druck: Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD. © Julian Stratenschulte/dpa | Unbekannt

Lässt sich das entstandene Leid wiedergutmachen?

Ob der erlebte Missbrauch jemals wiedergutgemacht werden kann – und wenn ja, wie, das können Betroffene nur für sich selbst entscheiden. Ich sehe diesen kirchlichen Impuls, verstehe aber nicht, warum dann nicht die notwendigen Weichen gestellt werden. Zum Beispiel, indem die Kirche endlich verbindliche Regeln für Anerkennungszahlungen schafft, Kosten für Therapieplätze und für Unterstützungs- und Hilfeangebote übernimmt, die betroffene Menschen brauchen. Viele der Betroffenen sind traumatisiert. Ich finde es sehr gut, dass die hessische Landeskirche einen Sockelbetrag von 20.000 Euro für Betroffene von Missbrauch festgelegt hat, vielerorts sind es nur 5.000 Euro. Wichtig ist: Es müssen jetzt Transparenz und Verbindlichkeit bei den Anerkennungszahlungen hergestellt werden, verpflichtend für alle Landeskirchen.

Die evangelische Kirche betreibt auch Kindergärten. Wie groß ist die Gefahr des Missbrauchs heute?

Jede Kita ist ein Risikoraum, egal, ob kirchlich, staatlich oder in freier Trägerschaft. Die Täter und auch Täterinnen gehen oft strategisch vor, bauen sich über einen langen Zeitraum ein kinderfreundliches Image auf, manipulieren Kolleginnen und Kollegen und Eltern, suchen ungeschützte Räume für ihre Taten. Das kann überall passieren. Und nicht immer ist der Erzieher der Täter, sexuelle Übergriffe gibt es auch unter Kita-Kindern. Entscheidend ist: Wie gut hat ein Kindergarten Schutzmaßnahmen gegen Missbrauchshandlungen aufgebaut, gibt es beispielsweise sexualpädagogische Konzepte oder einen Verhaltenskodex für die Mitarbeitenden?

Wie erkenne ich als Vater oder Mutter, ob die Kita die Schutzkonzepte umsetzt?

Fragen Sie nach, ob die Kita ein Schutzkonzept gegen sexuelle Gewalt hat und wie dies im Alltag dort umgesetzt wird. Wichtig ist, dass die Mitarbeitenden von den Regeln zum Schutz der Kinder wissen, und dass die Maßnahmen bei Elternabenden vorgestellt werden. Wichtig ist auch, dass Kitas zum Beispiel mit externen Expertinnen und Experten, zum Beispiel mit spezialisierten Fachberatungsstellen vor Ort, bei der Prävention und Intervention von Gewalt zusammenarbeiten. Mein Tipp: Sprechen Sie mit der Kita offen über das Thema – und wenn Sie merken, dass die Kita gleich in eine Abwehrhaltung geht, wenn Sie Missbrauch thematisieren, dann sollten alle Alarmglocken angehen. Denn genau diese Räume, in denen das Thema tabuisiert wird, machen sich Täter und Täterinnen gezielt zunutze, das gilt für alle Räume, auch der Kirche.

Was sind Anzeichen von Missbrauch, die Eltern bei ihren Kindern erkennen können?

Kinder sprechen meist nicht einfach darüber, aber sie verändern sich, manche werden plötzlich sehr still, andere aggressiv. Wer missbraucht wurde, zeigt seine Verletzungen meist nach und nach, das sind oft lange Prozesse. Eltern sollten ihr Kind beobachten und sich fragen, was sind die Gründe für Veränderungen. Ein Beispiel: Wenn mein Kind nicht mehr zum Turnen will, kann dahinter ein Streit mit der besten Freundin stecken. Es kann aber auch ein Fall von erlebter sexueller Gewalt sein. Wir dürfen nur einen Fehler nicht machen: Missbrauch in unseren Gedanken von vornherein ausschließen.

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Und wenn Eltern Missbrauch vermuten?

Wir müssen Kindern zuhören und ernst nehmen, wenn sie nicht mehr zur Kita, in die Schule oder in den Verein wollen. Eltern müssen keine Kinderschutzexperten sein – aber sie müssen wissen, wo sie Hilfe bekommen, wenn sie einen Verdacht oder ein komisches Bauchgefühl haben. Unterstützung gibt es zum Beispiel bei einer Fachberatungsstelle oder anderen Kinderschutzeinrichtungen vor Ort oder sehr niedrigschwellig bei unserem Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch.

Im Gespräch mit unserer Redaktion: die Missbrauchsbeauftrage des Bundes, Kerstin Claus.
Im Gespräch mit unserer Redaktion: die Missbrauchsbeauftrage des Bundes, Kerstin Claus. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Immer wieder gibt es Fälle von Lehrern, die Verhältnisse mit Schülerinnen oder Schülern eingehen. Dürfen diese Lehrkräfte noch unterrichten?

Schon von einem Verhältnis zu sprechen, ist falsch. Es gibt keine gleichberechtigten sexuellen Beziehungen zwischen einem Erwachsenen und einem Kind, und auch nicht zwischen Lehrkräften und schutzbefohlenen Schülerinnen und Schülern, auch wenn diese über 14 Jahre sind. Das sind keine Liebesverhältnisse, sondern das ist Ausnutzung von Macht, das ist sexuelle Gewalt. Auch für Schulen braucht es deshalb Schutzkonzepte, die den Umgang zwischen Lehrkräften und Schülern regeln. So sollten Lehrkräfte keinen privaten Kontakt über Messengerdienste zu den Schülern haben oder sollten sie zum Beispiel auch nicht nach dem Unterricht mit dem Auto nach Hause fahren.

Die Ampel-Koalition wollte Ihr Amt und den Kampf gegen Missbrauch mit einem eigenen Gesetz stärken. Die Legislatur ist in ihrem vorletzten Jahr, passiert ist bisher wenig. Wie wichtig ist der Bundesregierung der Kinderschutz in Zeiten von Ukraine-Krieg und Klimakrise?

Die Verhandlungen in der Bundesregierung dazu laufen sehr ernsthaft, und ich bin zuversichtlich, dass die Bundesregierung bald zu einer Einigung kommt, damit der Gesetzgeber sich noch in diesem Jahr mit dem Gesetz befassen kann. Wir brauchen diese Debatte, aber es darf nicht sein, dass Gewalt gegen Kinder im Wahlkampf parteipolitisch ausgeschlachtet wird. Das Thema braucht einen breiten parteiübergreifenden Konsens, um Prävention, Intervention, Forschung und Aufarbeitung dauerhaft zu verbessern.

Kriminalitätsstatistik: Kerstin Claus und BKA-Präsident Holger Münch stellen jedes Jahr die Zahlen kindlicher Gewaltopfer vor.
Kriminalitätsstatistik: Kerstin Claus und BKA-Präsident Holger Münch stellen jedes Jahr die Zahlen kindlicher Gewaltopfer vor. © Christoph Soeder/dpa | Unbekannt

Die Sicherheitsbehörden wollen im Kampf gegen Kindesmissbrauch Daten von Telekommunikationsanbietern anlasslos speichern. Ist dieser Schritt richtig?

Es geht um die Speicherung von sogenannten Verkehrsdaten, also der IP-Adresse als Nutzererkennung. Diese Daten lassen für sich alleine keinen Rückschluss auf die Person und die Internetnutzung zu. Bisher speichern Telekommunikationsfirmen die Daten in Deutschland meist eine Woche, wenn überhaupt. Es gibt keine Vorgaben per Gesetz. Diese Lücke gilt es zu schließen. Mir haben Spezialeinheiten von Staatsanwaltschaften berichtet, dass es eine Vielzahl von Fällen von Missbrauch gibt, die sich nicht mehr ermitteln lassen, weil IP-Adressen oder E-Mail-Adressen fehlen.

Was fordern Sie?

Wir brauchen keine Speicherung von Daten über ein halbes oder ein ganzes Jahr. Aber Unternehmen sollten Telekommunikationsdaten gesetzlich verpflichtend einige wenige Wochen lang speichern können. Das hilft Ermittlern ungemein, wenn sie einem Täter auf der Spur sind. Die Speicherung von Daten hilft aber auch, aktuelle bisher unerkannte Fälle von Missbrauch an Kindern oder Jugendlichen aufzudecken.