Berlin/Brüssel. AfD-Chefin Weidel hat einen „Dexit“ ins Gespräch gebracht. Wie der ablaufen würde – und welche großen Hürden Weidel übersieht.
Mit ihrem Planspiel für einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union hat AfD-Chefin Alice Weidel für neue Aufregung nicht nur hierzulande gesorgt – und für viele Fragen. Könnte eine AfD in Regierungsverantwortung wirklich einfach so die deutsche EU-Mitgliedschaft nach 70 Jahren kündigen? Wie würde das funktionieren, was wären die Folgen?
Weidel sagt dazu nur knapp, eine von der AfD geführte Regierung werde versuchen, die Europäische Union zu reformieren und den Mitgliedstaaten wieder mehr Souveränität zu geben. Falls dies nicht das gewünschte Ergebnis bringe, „sollten wir die Bürger entscheiden lassen, so wie in Großbritannien“, erläuterte die Rechtsaußen-Chefin der britischen „Financial Times“. Dem Brexit soll der „Dexit“ folgen: „Wir könnten ein Referendum abhalten – über den deutschen Ausstieg aus der EU“, meint Weidel.
Nur: Es klingt einfach, ist es aber nicht. Theoretisch kann auch Deutschland aus der EU austreten (aber nicht ausgeschlossen werden), das Verfahren ist seit 2009 im EU-Vertrag geregelt. Die Bundesregierung würde dem EU-Rat der Mitgliedstaaten eine Austrittserklärung vorlegen, die den verfassungsrechtlichen Vorschriften entsprechen muss, eine Begründung ist nicht erforderlich. Dann wären regulär zwei Jahre Zeit für die Verhandlungen über ein Abkommen zu den künftigen Beziehungen, bis die Trennung vollzogen würde. Die Briten haben es mit dem Brexit-Referendum 2016 vorgemacht. Aber: Die Hürden sind in Deutschland höher als in Großbritannien und so hoch, dass die AfD selbst für den nicht absehbaren Fall einer Regierungsbeteiligung die EU-Mitgliedschaft kaum beenden könnte. Denn: Für den Dexit bräuchte es nicht nur ein Gesetz, es müsste erst das Grundgesetz mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat geändert werden.
EU-Austritt geht nur mit Grundgesetz-Änderung
Ihre Anhänger und ihre Gegner mögen der AfD viel zutrauen, aber dass Rechtsaußen eine solche Mehrheit jemals zustande bringt, ist praktisch ausgeschlossen. Auf Bundesebene hat das noch nie eine Partei geschafft. Warum Verfassungsänderung? Zum einen wäre sie notwendig, wenn die Bürger über den Dexit in einem Referendum abstimmen sollten, was Weidel vorschlägt. Bislang sind solche Referenden, wie sie in Großbritannien zur knappen Brexit-Entscheidung führten, auf Bundesebene gar nicht möglich, sie müssten erst im Grundgesetz verankert werden. Hatte Weidel das übersehen? Es ginge natürlich auch ohne Volksabstimmung. Aber wenn stattdessen eine Bundesregierung aus eigener Autorität die EU-Kündigung in Gang setzen wollte – an einer weiteren Verfassungsänderung führte kein Weg vorbei.
Der Europarechtler Thomas Groß von der Universität Osnabrück stellt klar: Ein Austritt aus der Union im vorgesehenen Verfahren des EU-Vertrags „ist von den geltenden Vorgaben des Grundgesetzes nicht gedeckt“. Heißt: „Eine Austrittserklärung wäre verfassungswidrig.“ Dies sei auch „die herrschende Auffassung unter den deutschen Verfassungsrechtlern“, sagt der Rechtsprofessor unserer Redaktion. Die Hürde: Das Grundgesetz enthält Festlegungen zur Verwirklichung eines vereinten Europas. Die Bundesrepublik soll laut Präambel „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ dem Frieden der Welt dienen. Und: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik bei der Entwicklung der Europäischen Union mit“, heißt es in Artikel 23.
Das Bundesverfassungsgericht nennt dies einen „Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas“. Das bedeute für die deutschen Verfassungsorgane, „dass es nicht in ihrem politischen Belieben steht, sich an der europäischen Integration zu beteiligen oder nicht.“ Europarechtler Groß betont: Wenn es einen politischen Willen zum Austritt gebe, müssten erst sowohl die Präambel als auch Artikel 23 des Grundgesetzes geändert oder aufgehoben werden. Der Staats- und Europarechtler Mike Wienbracke von der Westfälischen Hochschule hat sich schon während des Brexits ähnlich klar geäußert: „Die aktuelle deutsche Verfassung lässt einen EU-Austritt der Bundesrepublik ebenso wenig zu wie die Abspaltung eines einzelnen Bundeslands.“
AfD-Plan für Dexit: Große Mehrheit dagegen
Abgesehen von der hohen Hürde, über deren Einhaltung die Karlsruher Verfassungsrichter wachen: In Deutschland ist für einen EU-Austritt überhaupt keine politische Mehrheit in Sicht – wohl nicht einmal in der AfD. Die Rechtsaußen sehen laut ihrem Wahlprogramm zur Europawahl die EU zwar als gescheitertes Projekt und fordern eine Neugründung als „Bund europäischer Nationen“, aber den Dexit hat die Partei nach längerer Debatte dann doch lieber nicht ins Programm genommen. Der AfD-Spitzenkandidat zur Europawahl, Maximilian Krah, hat klargestellt: „Soweit mit dem Dexit gemeint ist, Deutschland geht heraus und alle anderen bleiben drin, dann wollen wir das nicht.“
Die Bundesbürger sind ohnehin in großer Mehrheit gegen den Abschied aus der Union. In einer Umfrage für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung sprachen sich 87 Prozent der Befragten für den Verbleib Deutschlands in der EU aus, unter den AfD-Wählern war es immerhin jeder Zweite. Zehn Prozent der Bürger sind demnach ausdrücklich gegen eine EU-Mitgliedschaft. Doch dass Deutschland ohne EU-Mitgliedschaft besser für die Zukunft gerüstet sei, bejahten in einer Umfrage im Auftrag der EU-Kommission immerhin 21 Prozent der Teilnehmer ganz oder teilweise. Führende deutsche Ökonomen halten diese Erwartung für gefährlich falsch. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sieht bei einem Dexit das Ende des deutschen Wirtschaftsmodells und fürchtet um Millionen guter Arbeitsplätze: „Der Brexit war eine katastrophale Entscheidung für Großbritannien, die großen wirtschaftlichen und sozialen Schaden angerichtet hat und Autonomie, Freiheit und Unabhängigkeit deutlich reduziert hat.“ Ein Dexit wäre für Deutschland wegen seiner großen Exportabhängigkeit „noch deutlich schädlicher“, warnt Fratzscher. Der Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, meint: „Ohne die EU steht das deutsche Exportmodell unmittelbar vor dem Kollaps.“