Hamburg. Bahnkunden lassen oft ihren Frust am Personal aus. Mitarbeiterin Marie hat viel erlebt. Und manche Ereignisse waren besonders eklig.
Der Puls klettert plötzlich nach oben, die Augen verdrehen sich vor Unverständnis, und bei dem einen oder der anderen flattern vielleicht sogar die Nasenflügel vor Wut: Zugegeben – wer kennt es nicht, diesen Anflug von Frust, wenn der ICE mal wieder massiv verspätet ist oder erst gar nicht fährt? Aber deswegen das Zugpersonal anpöbeln oder anspucken – oder noch schlimmer? Die 55-jährige Marie (Name geändert) musste das alles schon erleben: Sie ist Zugbegleiterin der Deutschen Bahn.
„Manchmal kommt es mir vor, als sei ich die Fußmatte der Nation“, sagt sie. Seit fünf Jahren arbeitet sie nun als Zugbegleiterin. Zuvor war sie lange als Fleischerin tätig und fuhr obendrein Taxi. „Es macht mir Spaß, Leute von A nach B zu fahren und dabei die unterschiedlichsten Menschen kennenzulernen“, sagt sie. Eine Stellenausschreibung der Deutsche Bahn zur Zugbegleiterin habe sie als Möglichkeit gesehen, statt zwei Jobs nur einen zu machen – und ihrer beruflichen Leidenschaft weiterhin nachzugehen.
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Doch was Marie in ihrem Berufsalltag erleben muss, ist oft weit entfernt von netten Bekanntschaften mit Fahrgästen oder einem fröhlichen Plausch zwischendurch: Täglich wird sie beleidigt, Fahrgäste ignorieren ihre Anweisungen, behandeln sie abfällig. So wie neulich am Hamburger Hauptbahnhof, als sie in ihrer Arbeitsuniform am Bahnsteig ihre Pause verbrachte: „Ich wollte nur in Ruhe meine Stulle essen: Da ist jemand an mir vorbeigelaufen, spuckt mich an und sagt ‚Scheiß Bahn‘.“
Zugbegleiter übernachten bis zu drei Nächte pro Woche im Hotel
Seit Corona sei die Situation nur noch schlimmer geworden, erklärt Marie und erzählt von einem Vorfall aus dem Herbst: Sie habe die Tickets einer Gruppe von Männern kontrollieren wollen, die augenscheinlich auf dem Weg zu einer Junggesellenabschiedsfeier waren. Dann habe ein Angetrunkener ihr an den Po gefasst. Derartige Belästigungen und auch Grenzüberschreitungen gehören zu ihrem Berufsalltag.
„Ich bin mittlerweile so weit, dass ich sämtliche Übergriffe als Arbeitsunfälle notiere. Ich denke dabei an die Zukunft: Vielleicht schaden die erlebten Dinge langfristig meiner Psyche“, erklärt Marie. Kollegen, die schon lange nervlich komplett am Ende sind, kenne sie zur Genüge. Zwar gibt es für die Mitarbeitenden eine telefonische Seelsorge. Marie hat die Seelsorge aber noch nicht in Anspruch genommen. Sie spreche mit ihrer Familie, sagt sie. „Für den Job brauchen man wirklich ein dickes Fell.“
Auch die Arbeitsbedingungen sind schwierig. Nicht umsonst streikt das Personal gerade deswegen. Marie hat wie alle Zugbegleiter einen Acht-Wochen-Schichtplan – doch immer wie er werden Schichten kurzfristig verschoben. „Eigentlich arbeiten wir 365 Tage im Jahr 24/7“, erklärt sie. Rücksicht auf Bio-Rhythmus oder regelmäßige Schlafzeiten? Fehlanzeige. Mal fängt sie um 4.40 Uhr morgens an zu arbeiten, mal um 13.30 Uhr. Und selbst nach einem 13-Stunden-Tag kann Marie nicht immer ins eigene Bett kriechen: Ein bis dreimal pro Woche übernachtet sie in einem Hotel, da ihre Endstation nicht in ihrem Heimatort ist – und am nächsten Tag geht es weiter.
Deutsche Bahn: „Familie kann man in diesem Job abhaken“
Auch an Heiligabend konnte Marie ihre Kinder nur per Videokonferenz sehen. Generell sei der Dezember besonders anstrengend gewesen – in diesem Monat habe sie fast 50 Überstunden gemacht. „Wenn man diesen Job macht, muss man ein stabiles, soziales Umfeld haben“, erklärt sie. Denn viel Zeit für Freunde oder Familie gibt es schlicht nicht. „Deswegen hauen auch so viele junge Leute wieder ab: Familienplanung, Familiengründung – das kann man in diesem Job abhaken“, so Marie. So sehr sie hofft, dass die 35-Stunden-Woche kommt: Solange das Personalproblem nicht gelöst ist, sieht Marie keine nachhaltige Verbesserung der Arbeitskonditionen.
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Die schlimmste Situation, die Marie in ihrem Beruf erlebt hat, ist noch nicht lange her: Vor etwa einem Monat, Marie erreicht die Endhaltestelle Knielingen in der Nähe von Karlsruhe. Sie läuft durch den Zug, um zu prüfen, ob etwaige Taschen oder Jacken liegen gelassen worden sind, oder ob sich noch Fahrgäste im Waggon befinden. Und tatsächlich: Im vierten Wagen, in den sie läuft, steht ein Mann – er scheint auf sie gewartet zu haben. Und was dann passiert, klingt wie eine Szene aus einer Satireserie: „Er sah mich, zeigte mir den Stinkefinger, machte seine Hose auf – und pinkelte auf die Sitze. Und sagte: Diese Scheiß Deutsche Bahn!“
Trotz Aggressionen macht ihr der Job als Zugbegleiterin Freude
Ob sie es manchmal bereue, den Job als Zugbegleiterin begonnen zu haben? „Nein“, sagt Marie, ohne zu überlegen. „Es macht auch unheimlich viel Spaß: Man kommt viel herum, man sieht viele Orte. Und ich treffe spannende Menschen: auch Politiker und Promis.“ Die liebevollen Gesten seien es, die Marie ihre Freude an ihrem Job nicht verlieren lassen.
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Eine ihrer schönsten Begegnungen war mit einem Fahrgast aus Hamburg, der mit dem Fahrrad unterwegs war: Mit Maries Hilfe konnte die Frau trotz vieler Zugausfälle letztendlich an ihrem Zielort ankommen. Die Frau war so dankbar, dass sie Marie ihre Nummer gab und sie als Gast ins Haus ihrer Familie einlud, wenn sie mal Urlaub in der Hansestadt mache. Fazit: Marie würde sich wieder für den Job als Zugbegleiterin entscheiden – trotz und wegen der Fahrgäste.