Berlin. Vor einem Jahr löste der Tod von Jina Mahsa Amini im Iran heftige Proteste aus, Hunderte starben. Wie geht es den Menschen heute?
Sie hatte – angeblich – ihr Kopftuch nicht richtig auf und das bezahlte sie mit ihrem Leben. Am 16. September 2022 starb die junge Kurdin Jina Mahsa Amini während einer Reise bei ihrem Zwischenstopp in Teheran. Sittenwächter hatten sie zuvor festgenommen. In Polizeigewahrsam wurde die 22-Jährige offenbar so schwer misshandelt, dass sie später im Krankenhaus starb.
Ihr Tod löste schwere Proteste aus, die internationale Bewegung "Frauen, Leben, Freiheit" entstand. Das Mullah-Regime antwortete mit äußerst brutaler Gewalt. 500 Menschen kamen ums Leben, etliche wurden inhaftiert, es kam zu Vergiftungen und Hinrichtungen. Was ist seitdem passiert? Wie geht es den Menschen im Iran heute?
Für Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal ist klar: "Der Tod von Jina Mahsa Amini ist eine Zäsur." Stoppen lasse sich die Bewegung "Frauen, Leben, Freiheit" kaum. "Es ist unglaublich, was für eine Kraft trotz der Gewalt und der Repression die Protestbewegung hat", sagte sie dieser Redaktion anlässlich des Jahrestags. Sie bezieht sich auf die vielen Frauen und Mädchen, die trotz schärferer Kleiderordnung laut Beobachtern ohne Kopftuch auf die Straße gehen, die tanzen und feiern.
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Iran: Dramatische Berichte aus dem Im Evin-Gefängnis
Die Aktivistin hat beste Kontakte in den Iran, selbst aus dem berüchtigten Evin-Gefängnis kommen Nachrichten. Etwa von Narges Mohammadi (51), einer iranischen Menschenrechtlerin, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder im Gefängnis saß und auch jetzt inhaftiert ist. Ein Brief Mohammadis gelangte nun an die Öffentlichkeit. Darin berichtet sie über die offensichtlich zunehmende Nervosität des Regimes, je näher der Jahrestag rücke. "Das Vorgehen wird härter", schreibt Mohammadi darin. Ziel sei offenbar, die Atmosphäre der Angst und des Schreckens zu verstärken.
Trotz der großen Gefahr: Der Protest sei zwar leiser geworden, aber nicht verstummt. "Die Menschen haben nichts zu verlieren", erklärt Shiva Rostami. Die 71-Jährige, deren Namen geändert wurde, um sie und ihre Familie zu schützen, war schon als junge Frau bei der Revolution von 1979 auf den Straßen Teherans.
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Sie kämpfte gegen den Schah – und fand sich in einem brutalen Gottesstaat wieder. Mitte der 1980er Jahre emigrierte sie nach Deutschland. Regelmäßig reiste sie in den Iran, zuletzt im vergangenen Herbst, wo sie sich der Protestbewegung anschloss. "Der Hass auf die Mullahs treibt mich an", sagte sie damals dieser Redaktion über den Messenger-Dienst Telegram.
"Die Revolution im Iran ist nicht mehr aufzuhalten"
Wochenlang ging sie täglich auf die Straße, bevor sie zu ihrer Familie ins Ruhrgebiet zurückkehrte. Den Kontakt zu ihrer Gruppe im Iran hält sie seitdem aufrecht. "Wir haben einen Geheimcode", sagt Rostami nun.
Sie vergleicht die Gesellschaft ein Jahr nach dem Tod von Jina Mahsa Amini mit einem Topf, der voll ist mit kochendem Wasser. Das Regime versuche, den Deckel draufzuhalten, und zwar mit immer schärferen Maßnahmen. "Es wird ihm nicht gelingen", sagt Rostami. Die "Revolution" sei nicht aufzuhalten. Im Land gebe es keine Jobs, keine Freiheit, keine Zukunft. Das Bildungswesen sei von Mullahs durchsetzt worden. "Sie haben Professoren durch regimetreue Leute ersetzt", berichtet sie.
Auch das Onlinemagazin "Times Higher Education" berichtet von zahlreichen Kündigungen an Universitäten. Die Plattform beruft sich auf Berichte von iranischen Forscherinnen und Forschern. Demnach würden vermehrt "Regime-Loyalisten" in akademische Spitzenpositionen eingesetzt. Die österreichische "Presse" berichtet unter Berufung auf interne Dokumente von 300 Akademikern, die entlassen wurden. Dennoch flammten gerade an den Universitäten die Proteste in jüngster Zeit wieder auf.
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Auch auf den Straßen ist die Stimmung aufgeheizt. Würden Sittenwächter auf Frauen und Mädchen ohne Kopftuch aufmerksam, würden sie sofort von einer schützenden Menge umringt, so Rostami. Die iranische Journalistin Farangiss Bayat – sie lebt seit einigen Jahren in Deutschland – schreibt in einem Beitrag für die "Zeit": Der demonstrative Akt, den Hidschab abzulegen, gebe Frauen die Möglichkeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort einen revolutionären Raum zu schaffen.
"Den Menschen im Iran haben keine Zukunft – und daher nichts zu verlieren"
Und diese Möglichkeit, so die Beobachtung von Shiva Rostami, werde genutzt. Sie berichtet von geheimen Verabredungen und immer mehr Menschen, die bereit seien, sich über ihre Angst hinwegzusetzen. "Wenn die Mullahs bleiben, hat der Iran keine Zukunft" – diese Ansicht sei noch verbreiteter als vor einem Jahr.
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Wie Shiva Rostami vergleicht auch Gazelle Sharmahd die Bewegung mit einer Revolution, die nicht mehr einzuholen sei. Die Tochter des inhaftierten und zum Tode verurteilten iranisch-stämmigen Deutschen Jamshid Sharmahd muss jeden Tag damit rechnen, dass ihr Vater hingerichtet wird. "So viele Iraner im Land und in der Diaspora gehen auf die Straße, setzen sich überall auf der Welt ein für Freiheit." Trotz der sieben jungen Männer, die nach erfundenen Anschuldigungen hingerichtet wurden. Trotz der Verbannungen, Haftstrafen, der Giftanschläge auf Mädchenschulen.
Für Düzen Tekkal, die Aktivistin, sind die Repressionen nicht nur ein Anschlag auf die Menschen im Land, sondern auf die "offene Welt, auf den liberalen Westen". Dieses Bewusstsein sei immer noch nicht angekommen. Deshalb appelliert sie: "Wenn wir möchten, dass die Welt ein besserer Ort wird, dann unterstützen wir die Revolution im Iran."
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