Berlin. Das gab es noch nie: Die halbe Welt ist 2024 zu Wahlen aufgerufen. Es steht für uns viel auf dem Spiel, nicht nur in den USA.
Das neue Jahr wird als Super-Wahljahr in die politische Weltgeschichte eingehen – und als ein Jahr mit schicksalshaften Entscheidungen: 2024 ist erstmals mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung binnen zwölf Monaten aufgerufen, neue Parlamente oder Präsidenten zu wählen. Von Indien über die USA und Russland bis Südafrika: In über 70 Ländern, in denen zusammen 4,2 Milliarden Menschen leben, wird gewählt.
Es geht um ungewöhnlich viel: Vor der US-Präsidentenwahl hält die Welt den Atem an – aber auch die Wahl im viel kleineren Taiwan zum Beispiel kann weltweit Konsequenzen haben. Doch das Super-Wahljahr wird kein Sieg für die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts – in vielen Ländern dürften sich Autokraten mit Scheinwahlen, Manipulationen und unterdrückter Opposition die Macht sichern.
Die aus globaler Perspektive wichtigste Wahl findet natürlich am 5. November in den Vereinigten Staaten statt. Bekommt Präsident Joe Biden den Wählerauftrag für eine zweite Amtszeit, bleibt der führende Staat der Welt eine berechenbare Supermacht, die für Demokratie und liberale Werte rund um den Globus eintritt. Doch was, wenn sich Donald Trump durchsetzen sollte – vor Gericht für seine Wahlzulassung, im März als Präsidentschafts-Kandidat der Republikaner und acht Monate später bei den Präsidentschaftswahlen?
Ein Wahlsieg Trumps brächte weltweite Erschütterungen mit sich
Wird Trump Präsident, wofür laut Umfragen eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, wären die politischen Erschütterungen in vielen Teilen der Erde spürbar: Europa müsste von nun an fürchten, die USA als Partner, Verbündeten und atomare Schutzmacht zu verlieren. Sie wäre damit in einer Welt zunehmender Unsicherheit auf sich allein gestellt. Die amerikanischen Hilfslieferungen an die Ukraine würden wohl weitgehend oder komplett eingestellt, womit Russlands Präsident Wladimir Putin plötzlich doch einem Sieg in seinem Angriffskrieg näherkommen könnte. Der Klimaschutz stünde mit einem Präsidenten Trump erneut vor einem Rückschlag. Und in Fernost würde eine militärische Konfrontation der USA mit China (das keine Wahlen abhält) wahrscheinlicher.
Schon Anfang Januar geht der besorgte Blick nach Fernost: Die Parlamentswahlen in Taiwan am 13. Januar dürften großen Einfluss darauf haben, ob sich die Spannungen mit der Volksrepublik China weiter verschärfen: Die neue Regierung in Taipeh ist mit der Drohung des chinesischen Präsidenten Xi Jinping konfrontiert, seine Volksarmee werde sich bis 2027 ausreichend vorbereitet haben für die Eroberung Taiwans.
Die Taiwanesen haben die Wahl: Die regierende Partei des Demokratischen Fortschritts steht mehr und mehr für einen Kurs der Unabhängigkeit von China und will Taiwan auf einen Krieg vorbereiten, um ihn durch Abschreckung zu verhindern – Peking reagiert mit zunehmender Aggressivität. Die frühere Regierungspartei Kuomintang verfolgt dagegen einen chinafreundlichen Kurs und setzt auf Dialog, was die Spannungen zunächst mildern würde – ob es langfristig Taiwan vor einer zwangsweisen Wiedervereinigung durch eine chinesische Invasion schützt, ist indes offen.
In Russland wird Putin seine Macht verteidigen
Am 17. März wählt Russland seinen Präsidenten. Amtsinhaber Wladimir Putin hat seine Kandidatur Anfang Dezember offiziell erklärt, der amtliche Wahlausgang steht damit schon heute fest: Putin bleibt Präsident, obwohl sein Krieg gegen die Ukraine bis jetzt um die 70.000 Russen das Leben gekostet hat. Zudem sind die Kosten enorm und die verkündeten Ziele wurden nicht erreicht.
Aber Putin hat die Opposition systematisch niedergeschlagen, sodass er keinen ernsthaften Herausforderer hat, und er scheut vor Wahlfälschungen nicht zurück. Wichtiger als die Wahl daheim wird für den Kremlherrscher sein, wie sich die US-Wähler acht Monate später entscheiden.
Die meisten Wähler werden in Asien abstimmen, wo Indien, Pakistan, Indonesien und Bangladesch mit zusammen 2,1 Milliarden Einwohnern die Parlamente neu besetzen. In Indien wird wahrscheinlich Premier Narendra Modi mit eigener Mehrheit oder in einer Koalition weiter regieren können. Im bevölkerungsreichsten Staat der Welt sieht es dank ökonomischer Erfolge nach Stabilität aus, auch wenn Modis autoritärer Politikstil aus westlicher Perspektive problematisch ist.
Auch im Nachbarland Pakistan wird gewählt, hier ist die Stimmung nicht nur wegen einer schweren Wirtschaftskrise schlecht: Seit Premierminister Shehbaz Sharif das Parlament Mitte August auflösen ließ, herrscht politisches Chaos – Oppositionelle werden verhaftet, es kommt zu Anschlägen von Separatisten und zur Verfolgung von Christen. Dennoch dürften Sharif und seine regierende Muslim-Liga nach Umfragen weiter an der Macht bleiben.
Für Aufsehen wird die Wahl in Mexiko sorgen, dort wird voraussichtlich zum ersten Mal eine weibliche Präsidentin das Steuer übernehmen – beide Favoriten für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 2. Juni sind Frauen. Die linksnationale Claudia Sheinbaum, bis vor kurzem Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, sehen Demoskopen als Favoritin vor Xochitl Galvez vom Mitte-Oppositionsbündnis.
Trotz Wahlen: Es gibt mehr autokratische als demokratische Staaten
Auch in Europa wird gewählt: Die EU-Parlamentswahlen vom 6. bis 9. Juni dürften nach Umfragen einen deutlichen Zugewinn von Rechtsaußen-Parteien bringen, doch dürfte es nicht reichen, um die Mehrheit des proeuropäischen Mitte-Blocks zu gefährden. Nationale Parlamente werden auf dem Kontinent unter anderem in Österreich, Belgien, Portugal und Rumänien neu besetzt. Europa blickt gespannt auch auf Großbritannien: Dort sieht es so aus, als könnte die Labour-Partei die konservativen Tories nach 14 Jahren aus der Regierung jagen; Premier Rishi Sunak hat allerdings noch nicht entschieden, wann die Wahl stattfindet, wahrscheinlich ist ein Termin im Oktober.
Die Vielzahl an Wahlterminen klingt nach einem globalen Fest der Demokratie, aber davon kann keine Rede sein. Ein jährlicher Demokratie-Check der Bertelsmann-Stiftung zählt inzwischen weltweit wieder mehr autokratische als demokratische Staaten: Von 137 untersuchten Ländern sind nur noch 67 Demokratien, die Zahl der Autokratien steigt auf 70. Laut dem Demokratie-Index des britischen Magazins „Economist“ leben nur acht Prozent der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie (Deutschland gehört dazu), 37 Prozent in einer unvollständigen Demokratie (darunter die USA).
Doch auch Autokraten und autoritäre Regime halten zum Schein Wahlen ab, um ihre Macht zu festigen – mit Manipulationen, Wahlfälschungen und der Unterdrückung der Opposition. Das gilt etwa für die bevorstehenden Wahlen im Iran und in Bangladesch. Oder für Belarus, wo sich Langzeit-Machthaber Alexander Lukaschenko bei der Wahl im Februar wieder einen haushohen Sieg bescheinigen lassen will. Beim letzten Mal lag Lukaschenkos amtliches Ergebnis bei 80 Prozent der Stimmen – die offenkundig dreiste Wahlfälschung provozierte Massenproteste, die der Präsident mit Gewalt stoppte. Auch das könnte sich wiederholen in diesem Superwahl-Jahr.