Berlin. Beamte werden angegriffen und bedroht, die Politik warnt vor Eskalation. Wird die Gesellschaft tatsächlich brutaler? Was Experten sagen
Die Gruppe randaliert los. Sie wirft Böller auf einen Polizeiwagen, schmeißt ein Fenster einer Straßenbahn ein. 1000 vor allem junge Menschen sollen zeitweise der Clique angehören. Dann marschieren sie in dieser Nacht in Berlin in Richtung Polizeiwache, randalieren auch dort vor der Tür mit Feuerwerkskörpern, schießen eine Rakete in die Dienststelle. Die Polizei nimmt mehrere Personen fest. Die Bilanz der Nacht: mehr als ein Dutzend zerstörte Autos und weitere Sachbeschädigungen. Auch in Hamburg und Leipzig kommt es zu Ausschreitungen.
Es sind Meldungen aus der Silvesternacht. Allerdings nicht aus 2022, die Berichte sind mehr als zehn Jahre her, von 2009. Polizeibeamte – schon damals sind sie im Visier von Randalierern. Krawalle an Silvester: ein alter Hut? 2022 schien eine Zäsur. Bilder aus Berlin und anderen Großstädten zeigen junge Menschen, die mit Böllern auf Rettungskräfte werfen, Fahrzeuge brennen.
Polizisten bitten: „Beschmeißt uns nicht mit Böllern, Raketen oder Schreckschusswaffen“
Es wird beleidigt, bedroht, beschimpft. Nun bereitet sich die Hauptstadt nach Angaben der Innenbehörden auf den größten Polizeieinsatz der Geschichte zum Jahreswechsel 2023 vor: bis zu 2500 Beamte sind auf der Straße. In einem Video für die sozialen Netzwerke ruft die Berliner Polizei und Feuerwehr die jungen Menschen zu „Respekt“ auf. „Greift uns nicht an“, sagt eine Beamtin. „Beschmeißt uns nicht mit Böllern, Raketen oder Schreckschusswaffen“, sagt ein Feuerwehrmann.
Bilder aus 2009, Szenen aus 2022. Und doch wächst die Sorge, dass Angriffe auf Einsatzkräfte eskalieren. Dass der Respekt gegen Uniformierte immer weniger wird. Und die Gesellschaft immer brutaler. Zumindest wenn man in die Statistiken schaut: Die Zahl der Angriffe auf Polizei- und Rettungskräfte nimmt zu. Seit Jahren vermeldet das Bundeskriminalamt im Lagebild neue Höchstwerte bei Übergriffen auf Polizistinnen und Polizisten. Mehr als 40.000 Gewalttaten registrierten die Behörden allein 2022.
Feuerwehr-Umfrage: Mehr als 80 Prozent geben an, sie spüren „allgemeine Respektlosigkeit“
Die umfangreiche Megavo-Studie der Hochschule der Polizei kommt im Zwischenbericht zu dem Schluss: „Es zeigt sich, dass Beschimpfungen, Provokationen mit Abstand die häufigsten Opfererlebnisse sind.“ Fast entstehe der Eindruck, dass einige Befragte so oft provoziert und beschimpft wurden, dass es sich für sie nicht lohne, dies weiterzuzählen. Auch der Feuerwehrverband hat seine Mitglieder befragt und jetzt die Ergebnisse vorgestellt: Mehr als 80 Prozent geben an, sie spüren „allgemeine Respektlosigkeit“ und „mangelnde Wertschätzung“ in Einsätzen. Bei aktuellen Einsätzen in Hochwassergebieten würden Anwohner die Rettungskräfte beschimpfen, sie drängen, zuerst bei ihnen zu helfen. Manche hätten einfach Sandsäcke von den Notdeichen geklaut. „Neu ist die Qualität an Gewalt – und die Menge an Gewalt“, sagt Verbandschef Karl-Heinz Banse. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sagt: „Die Einsätze werden rauer.“
Ein Gegensatz fällt auf: Gewaltdelikte sind in Deutschland seit Anfang der 2000er insgesamt stark rückläufig. Körperverletzungen, Raube, Morde – nichts steigt, vieles sinkt seit Jahren in den Statistiken. Warum aber gilt das ausgerechnet nicht für Übergriffe auf die Polizei?
Wachsende Zahlen, weil die Anzeigebereitschaft bei der Polizei gewachsen ist?
So gibt es auch Stimmen, die nicht an eine Eskalation auf der Straße glauben. Die Beamtinnen und Beamten zeigten nur mehr Fälle bei ihrem Dienstherrn an, sagt Kriminologie Tobias Singelnstein. Das hänge auch damit zusammen, dass die Gesellschaft Gewalt viel weniger toleriere als noch vor Jahrzehnten. „Das ist gut, denn es zeigt, dass die Polizistinnen und Polizisten verbale oder körperliche Gewalt gegen sie ernst nehmen und nicht verschweigen“, sagt auch GdP-Bundesvorsitzender Jochen Kopelke im Gespräch mit unserer Redaktion. Was also früher an Übergriffen ausgehalten oder hingenommen wurde, wird nun durch Polizisten angezeigt.
Zwar gibt es keine Forschung dazu, aber das Phänomen wachsender Anzeigebereitschaft von Gewaltopfern ist auch in anderen Deliktsfeldern erkennbar, etwa bei Sexualstraftaten. Auch hier wurden durch Kampagnen und öffentliche Debatten die Betroffenen bestärkt, Fälle von Gewalt zur Anzeige zu bringen.
Eine andere Erklärung für wachsende Straftaten gegen Uniformierte ist: Die Einsätze werden mehr. Und damit auch die Gelegenheiten für Konflikte zwischen Uniformierten und Bürgerinnen und Bürgern. Immer wieder melden Landesregierungen Rekordzahlen bei den Einsätzen von Polizei oder Feuerwehr. Die Gewerkschaften zählen bundesweit Millionen Überstunden.
Paragrafen stellen nun unter Strafe, wenn Personen Rettungskräfte behindern
Zu erklären ist das zum einen damit, dass Menschen in privaten Streitigkeiten immer schneller die Polizei rufen als Streitschlichter. Zum anderen beeinflusst die Weltlage auch die Einsatzpläne in den Dienststellen. Corona-Demonstrationen, Fußballspiele, Proteste zum Krieg in der Ukraine und jetzt zum Krieg von Israel gegen die Hamas. Dazu Sondereinsätze gegen Terrorgruppen und aufwendige Verfahren gegen organisierte Kriminelle – all das schlägt sich in Statistiken nieder. Und gerade die Demonstrationen sind genau solche Situationen, in denen die Polizistinnen und Polizisten mit Angriffen und Beleidigungen rechnen müssen.
Eine weitere Ursache für die gestiegenen Zahlen in den Statistiken zur Gewalt gegen Einsatzkräfte: Das Gesetz wurde verschärft. Paragrafen stellen nun unter Strafe, wenn Personen Rettungskräfte behindern. Wenn Menschen aus Ansammlungen heraus Straftaten begehen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) will nun auch bestrafen, wer Polizisten in einen Hinterhalt lockt. „Diese erweiterten Straftatbestände können dazu führen, dass die Fallzahlen in den Kriminalstatistiken steigen. Was früher ungeahndet passiert, wird heute strafverfolgt“, sagt Daniela Hunold, Polizeiforscherin an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, unserer Redaktion.
Dabei galt lange: Nicht die Demonstration, nicht der Sondereinsatz im Terrorkommando sind die gefährlichsten Einsätze für Polizistinnen und Polizisten – sondern die Streife, die zu einer Wohnung oder einem Haus fahren muss, weil dort Gewalt gemeldet wird. Es sind die Lagen abseits der Öffentlichkeit, in denen Beamte oft bedroht oder angegriffen werden. Enge Räume, aufgeheizte Stimmung, Kinder sind in der Wohnung, und oftmals liegen potenzielle Tatwaffen nicht weit entfernt, wie das Küchenmesser. Nicht selten solidarisieren sich Mann und Frau gegen die Polizei, auch wenn sie sich vorher noch spinnefeind waren.
„Nach Vorfällen mit Gewalterfahrung brauchen Polizisten psychologische Unterstützung“
Fokussieren sich Politik und Medien in ihren Debatten also zu sehr auf Großlagen wie Demonstrationen und Silvesternächte und lassen die eigentlichen Problemfelder unbeachtet liegen? „Übergriffe gegen Polizistinnen und Polizisten sind klar zu verurteilen, aber sie hat es immer schon gegeben, auch an Silvester. Und die Situationen sind für die Polizei, zwar mit viel Aufwand, insgesamt zu kontrollieren“, sagt Gewerkschafter Kopelke. „Wir dürfen nicht nur über die Ausnahmesituationen wie an Silvester oder bei Großdemonstrationen und Fußballspielen reden.“ Mit Blick auf die belastenden Einsätze in Fällen etwa von häuslicher Gewalt sagt Kopelke: „Hier ist Hilfe für die Beamtinnen und Beamten vor Ort in den Dienststellen wichtig: Nach Vorfällen mit Gewalterfahrung brauchen sie psychologische Unterstützung und Unterstützung vom Dienstherren.“
Das Schwierige ist: Über Gewalt gegen Uniformierte ist wenig bekannt. Denn es fehlt an Forschung darüber, wer die Täter sind, die Polizistinnen und Polizisten angreifen. Was sie motiviert. Und in welchen Situationen sie Einsatzkräfte attackieren. Wissenschaftlerin Hunold sagt: „Die Gründe für Übergriffe können manchmal ganz unerwartet sein, so gibt es Hinweise, dass manche Jugendliche in Krawallsituationen nicht einmal mehr unterscheiden können, wer nun Polizist und wer Feuerwehrmann oder Sanitäter ist.“
Es fehlt an Wissen: über die Täter, über die Tatgelegenheiten
Oftmals stehen Angreifer unter Alkohol oder Drogen, so das Ergebnis von Studien. Der Feuerwehrverband sieht nach eigenen Angaben eher den Familienvater als Täter, der kurz nach einer Tat seinen Sohn zum örtlichen Feuerwehrfest bringe, als sei nichts passiert. Es fehle an Wissen, es fehlten aber auch Zahlen. Das Bundeskriminalamt weist darauf hin, dass gar nicht erst einheitlich definiert ist, was überhaupt „Gewalt gegen Uniformierte“ ist. Schon der Schubser am Rande einer Demonstration? Oder erst der Wurf mit der Flasche? Studien nutzten in der Vergangenheit unterschiedliche Definitionen – und kamen so natürlich zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Die Debatte über die Täter hat sich stark konzentriert auf sozial benachteiligte Stadtteile, wie Neukölln in Berlin. Und auf bestimmte Milieus. Feststellbar seien Gruppen, „für die schwere Gewalt etwas Normales ist“, sagt GdP-Chef Kopelke. In einzelnen Vierteln leben Menschen, „die weniger Chancen im Berufsleben haben und Stigmatisierung im Alltag erleben“, sagt Polizeiforscherin Hunold. „Das hat Folgen. Etwa weniger Respekt vor dem Staat. Aus Frust, aus Wut.“ Dabei zeigen Polizeiberichte auch: Ausschreitungen gab es vergangenes Silvester nicht nur in Neukölln, sondern auch in anderen Stadtteilen wie Wedding und Mitte.
Training für Deeskalation ist in der Ausbildung der Polizei weniger stark auf dem Stundenplan
Studien zeigen, dass „ein ruhiges, professionelles und freundliches Auftreten“ der Polizei wirksam sei, um Angriffe gegen sie zu reduzieren. „Kommunikation“ sei dabei „die effektivste Maßnahme“. Ebendiese Forschung zeigt jedoch auch, dass das Training zur Deeskalation in der Ausbildung der Polizistinnen und Polizisten deutlich weniger Platz einnimmt als „Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs“.
Aber kann Kommunikation in einer hitzigen Silvesternacht noch gelingen, wenn Feuerwerkskörper fliegen, viele Menschen betrunken sind, es dunkel ist? Und ist es nicht genauso zu einfach, die Kommunikationsstrategie der Polizei verantwortlich für Gewalteskalationen zu machen?
Manche Politikerinnen und Politiker fordern statt Gesprächen mit den Tätern vor allem „hartes Durchgreifen“ und „robustes Auftreten“ von der Polizei. Was nach Ansicht der Kriminalforschung abschreckend wirkt, sind aber nicht unbedingt höhere Strafen, sondern schnelle Strafen. Sofortige Konsequenzen, die Täterinnen und Täter spüren müssten. Das verlangt eine gute Zusammenarbeit: zwischen Polizei und Justiz. Das verlangt nach Personal, das den Aktenstapel an Fällen nicht erst nach Jahren bearbeitet hat.
Genau diese sozialen und räumlichen Faktoren für Gewalt gegen Staatsbedienstete zeigen aber auch: Die Polizei ist mit der Lösung des Problems überfordert. „Es braucht eine enge Zusammenarbeit aus Sicherheitsbehörden, Jugendhilfe und kommunaler Politik“, sagt Kriminologin Hunold. Und Polizeigewerkschafter Kopelke sagt: „Der Staat gewinnt nicht durch Repression. Und Gewalt gegen Uniformierte können nicht Uniformierte lösen – das ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, da müssen Schulen, Justiz, Sozialarbeit, die lokale Politik und Nachbarschaftsinitiativen gemeinsam an einem Strang ziehen.“ Der beste Schutz der Polizei vor Übergriffen sei Aufklärung und Prävention.
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