Brüssel/Berlin. 2023 wurden nach neuesten Zahlen der EU mehr als eine Million Asylanträge gestellt. Deutschland ist aktuell am stärksten unter Druck.
Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland und Europa ist in diesem Jahr massiv gestiegen. Die Direktorin der EU-Asylagentur (EUAA), Nina Gregori, sagte unserer Redaktion, in der EU werde die Gesamtzahl der Asylanträge im Jahr 2023 „deutlich über einer Million“ liegen. Allein im Oktober habe ihre Agentur rund 123.000 Anträge registriert, das sei die höchste Monatszahl seit sieben Jahren. Mit einer Entspannung rechnet Gregori nicht, im Gegenteil: „Die Welt um uns herum wird immer instabiler. Der Schutzbedarf von Flüchtlingen wird 2024 und später daher nicht nachlassen, sich zum Teil sogar erhöhen.“ 2024 werde deshalb ein „herausforderndes Jahr“. Die Asyl-Chefin dämpfte zugleich die Hoffnung, dass die neue EU-Asylreform schnell Entlastung bringt.
Nach Daten der Behörde wurden in der EU bis Ende Oktober insgesamt rund 937.000 Anträge registriert – das ist ein Anstieg um 22 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Der Druck auf Deutschland ist in diesem Jahr allerdings noch wesentlich stärker: Hierzulande zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) bis Ende November 325.801 Asylanträge – ein Zuwachs um 52 Prozent, verglichen mit den ersten elf Monaten des Vorjahres. Bei den Erstanträgen auf Asyl ergibt sich nach den Bamf-Daten sogar eine Steigerung um 60 Prozent auf 304.581.
Asyl: Deutschland ist Hauptziel für Asylsuchende in der EU
Deutschland bleibe das Hauptziel für Asylsuchende in der EU, bilanziert deshalb auch die EU-Asylagentur. Im Oktober seien 27 Prozent aller Asylgesuche auf Deutschland entfallen – das ist mehr als Frankreich und Italien zusammen registrierten, die auf den Plätzen zwei und drei liegen. Rechne man noch Spanien hinzu, seien zuletzt auf vier EU-Länder zwei Drittel aller Asylgesuche entfallen, fasst die Behörde zusammen.
Direktorin Gregori sagte unserer Redaktion, die Zahl der Asylbewerber steige europaweit bereits seit Mitte 2022. In der ersten Jahreshälfte seien noch monatlich etwa 80.000 Gesuche registriert worden, die Zahl nehme seitdem weiter deutlich zu. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Gregoris Angaben zufolge Syrien, Afghanistan, Kolumbien, Venezuela und die Türkei. Syrer und dahinter Afghanen seien bis August die größten Bewerbergruppen gewesen, inzwischen seien aber Türken die zweitstärkste Gruppe.
Die Chefin der EU-Agentur mit Sitz in Malta betonte, auch die Anerkennungsquote der Asylbewerber sei in diesem Jahr leicht gestiegen: Im Oktober sei 49 Prozent von ihnen die Flüchtlingseigenschaft oder ein subsidiärer Schutz zuerkannt worden. „Zuletzt hat also knapp einer von zwei Antragstellern einen Schutzstatus der EU erhalten. Daraus folgt, dass ein größerer Teil der Schutzsuchenden in Europa tatsächlich Sicherheit braucht“, sagte Gregori. „Das ist angesichts der internationalen Sicherheitslage natürlich auch nicht sonderlich überraschend.“
Ukraine: Zahl der Schutzsuchenden ist weiter gewachsen
Weiter zugenommen hat unterdessen auch die Zahl der Flüchtlinge aus der in der Folge des russischen Angriffskrieges. Ende Oktober waren laut Gregori 4,16 Millionen Ukrainer in der EU registriert, die hier vorübergehenden Schutz genießen – 320.000 mehr als im Januar. Deutschland sei mit Stand Ende Oktober mit rund 1,17 Millionen ukrainischen Flüchtlingen das führende Gastgeberland in der EU, Polen belege mit 957.000 Ukrainern den zweiten Platz. Dass die EU-Regelung für den vorübergehenden Schutz der ukrainischen Flüchtlinge um ein weiteres Jahr bis März 2025 verlängert wurde, „ist ein starkes Signal dafür, dass sich die EU weiterhin für den Schutz derjenigen einsetzt, die vor der brutalen und illegalen Invasion fliehen“, sagte Gregori.
Die Regelung bedeutet, dass Ukrainer für ihren Schutzstatus keinen Asylantrag stellen müssen und in Deutschland zum Beispiel sofort ins Bürgergeld-System integriert sind, aber anders als andere Geflüchtete auch sofort arbeiten dürfen und Zugang zur Arbeitsvermittlung der Jobcenter haben.
Gregori begrüßte die Einigung in der EU auf eine Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems, die das EU-Parlament und der Rat der Mitgliedstaaten kurz vor Weihnachten erreicht hatten. Die Einigung sei „bahnbrechend“, sagte sie. Doch dämpfte die Direktorin zugleich die Hoffnung auf eine schnelle Entlastung: „Der neue Pakt ist kein Allheilmittel. Niemand sollte eine sofortige Veränderung erwarten, auch nicht in Hinblick auf die zahlenmäßige Entwicklung der Asylanträge“, betonte sie.
Aber der vereinbarte Pakt „sendet eine sehr klare Botschaft, dass die EU hart gegen diejenigen vorgehen wird, die versuchen, den Schutz für Flüchtlinge zu missbrauchen, die Schleuser eingeschlossen.“ Zugleich verpflichte sich die EU zu einem nachhaltigen und hoffentlich zukunftssicheren Schutzsystem von Weltrang für diejenigen, die es wirklich brauchen, meinte Gregori.
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Mit der Asylreform will die Europäische Union den Schutz der Außengrenzen stärken, Flüchtlingen ohne Bleibeperspektive steht eine schnellere Abschiebung bevor. Alle Nicht-EU-Bürger, die ohne Einreisegenehmigung in die EU kommen, müssen künftig ausnahmslos bereits an den EU-Außengrenzen eine Identitäts-, Sicherheits- und Gesundheitsprüfung durchlaufen. Für Asylbewerber wird es danach bereits an den Außengrenzen Vorprüfungen geben. Bei Migranten aus Staaten mit niedrigen Anerkennungsquoten soll in einem Eilverfahren in speziellen Asylzentren innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob ihr Antrag eine Chance hat. Wird das Asylgesuch abgelehnt, sollen die Betroffenen innerhalb von drei Monaten aus der EU abgeschoben werden.
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