Berlin. Finanzminister Christian Lindner setzt die Schuldenbremse aus. Aber ist dieser Schritt verfassungskonform? Ein Experte gibt Antworten.
Er hat es also doch getan: In einem knappen Statement kündigte Finanzminister Christian Lindner (FDP) am Donnerstag einen Nachtragshaushalt an. Das Wort „Schuldenbremse“ nahm er zwar nicht in den Mund. Dafür aber sein Sprecher: Die Ampel werde von der Ausnahmeregelung der Schuldenbremse Gebrauch machen. Der Bundestag müsse dafür die Notlage beschließen.
Aber ist dieser Schritt rechtens? Der Verfassungsrechtler Alexander Thiele von der BSP Business & Law School in Berlin vertrat die Bundesregierung als Prozessbevollmächtigter vor dem Bundesverfassungsgericht. Im Gespräch mit dieser Redaktion erklärt er, warum Schulden zwar für 2023 aufgenommen werden können – dafür aber das nächste Jahr auf der Kippe steht.
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Herr Thiele, ist das Aussetzen der Schuldenbremse verfassungskonform?
Alexander Thiele: Ich hatte der Regierung die Aussetzung der Schuldenbremse dringend angeraten, um dadurch dem Urteil für das Jahr 2023 nachzukommen. Der Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds (WSF), der für die Energiekrise eingesetzt worden ist, hatte 2023 Mittel von rund 40 Milliarden verausgabt. Im Januar 2023 finanzierte er etwa Energiepreisbremsen und weitere Hilfen, als wir uns alle fragten, wie wir einigermaßen sicher durch den Winter kommen. Diese Mittel benötigen jetzt eine neue Grundlage.
Um die Schuldenbremse auszusetzen, muss die Notlage erklärt werden. Warum ist das nicht schon im Januar geschehen?
Thiele: Es wäre auch damals theoretisch möglich gewesen, eine Notlage auszurufen. Diese Notlage hat die Regierung 2023 aber nicht erklärt, weil sie davon ausging, dass ihr ausreichende Mittel auch für 2023 mit dem 2022 begründeten WSF zur Verfügung stehen. Genau diese Mittel sind jetzt aber durch das Urteil rückwirkend weggefallen.
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Was ist der Knackpunkt des Urteils?
Thiele: Das fundamental Neue, womit auch die Antragsteller nicht wirklich gerechnet haben, ist: Für jedes Krisenjahr muss die Notlage jetzt zwingend erneut ausgerufen werden. Die Überjährigkeit, also die Aufnahme von Krediten für mehrere Jahre, war zuvor gängige Staatspraxis. Jetzt müssen die knapp 40 Milliarden für die Energiepreisbremsen aus dem Jahr 2023 mit dem Ausrufen der Notlage also nachträglich auf eine verfassungskonforme Grundlage gestellt werden. Es werden dadurch also keine neuen Schulden gemacht, da das Geld bereits ausgegeben ist. Sichergestellt wird allein, dass diese Mittel jetzt eine verfassungsrechtliche Grundlage haben. Hier liegt auch der Unterschied zum Klima- und Transformationsfond, dessen 60 Milliarden noch nicht verausgabt waren.
Kann die Notlage auch mit dem Klimawandel begründet werden?
Thiele: Mit der Klimakrise allein lässt sich keine Notlage begründen. Das hat das Verfassungsgericht jedenfalls zwischen den Zeilen ziemlich deutlich gemacht. Die Klimakrise ist demnach kein klassischer exogener Schock, sondern eine langfristig zu bewältigende Herausforderung, die mit den Mitteln des Kernhaushalts finanziert werden muss. Exogene Schocks sind hingegen punktuelle Ereignisse, die plötzlich auftreten, ohne dass man darauf hätte wirklich ernsthaft reagieren können. Das trifft 2022 etwa auf den Ukraine-Krieg zu: Plötzlich musste Öl und Gas aus Russland ersetzt werden. Das ist am Ende wegen der erheblichen finanziellen Mittel auch gelungen und genau dafür wurden die Kredite aufgenommen. Die Notlage ist also auch im Jahr 2023 nicht die Klimakrise, sondern die fortbestehende Energiekrise, hervorgerufen durch den Angriffskrieg Putins.
Wäre eine Notlage für 2024 begründbar?
Thiele: Das ist wahrscheinlich schwer zu begründen: Ich habe der Regierung gesagt, dass das Verfassungsgericht hier sehr viel Begründung verlangen würde, die möglicherweise trotzdem nicht ausreicht: 2024 werden die Energiepreise wohl so weit sinken, dass wir die Gelder akut nicht brauchen. Insofern scheint mir die Ausrufung einer Notlage für 2024 zwar nicht völlig unmöglich, aber doch sehr risikobehaftet.
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