Washington. Das US-Repräsentantenhaus bleibt weiter ohne Führung. Ein völlig vermeidbares, politisches Desaster – das handfeste Konsequenzen hat.
Das US-Repräsentantenhaus bleibt weiter ohne Führung. Es ist ein vermeidbares politisches Desaster, das die US-Demokratie zum Gespött der Weltöffentlichkeit macht und handfeste Konsequenzen hat. Nicht nur für den Ruf der USA als funktionierenden Rechtsstaat, sondern auch für Partnerländer, die dringend auf Hilfe aus Washington warten. Die Republikaner hoffen zwar, bis Dienstagabend einen neuen „Sprecher der Repräsentantenhauses“ zu haben. Ob das gelingen wird, ist höchst ungewiss.
Das hat es in der knapp 250-jährigen Geschichte der Vereinigten Staaten noch nie gegeben: Seit drei Wochen ist das Repräsentantenhaus ohne Führung und somit außerstande, Gesetze zu verabschieden oder selbst einen formalen Beschluss zu fassen, der den Angriff der radikalislamischen Hamas auf israelische Zivilisten verurteilt.
Die Handlungsunfähigkeit der unteren Kammer des Kongresses hat nicht nur verheerende Folgen für das Ansehen der zerstrittenen republikanischen Partei, die sich das Debakel selbst zuzuschreiben hat, sondern auch für das politische Tagesgeschäft. In drei Wochen droht den USA nämlich der nächste sogenannte „Shutdown“, also ein weitgehender Stillstand des staatlichen Verwaltungsapparats. Bauernopfer der Pattsituation auf dem Kapitolshügel sind aber auch Israel und die Ukraine, die auf Wirtschafts-, Militär- und humanitäre Hilfe in Höhe von 100 Milliarden Dollar warten.
US-Repräsentantenhaus: Flickwerk aus Pleite, Pech und Pannen
Begonnen hatte das Drama am 3. Oktober, als der früher „Speaker of the House“ Kevin McCarthy – der Fraktionschef der Mehrheitspartei und einer der mächtigsten Politiker in Washington – Opfer eines Aufstands in den eigenen Reihen wurde. Sein Erzrivale Matt Gaetz, ein republikanischer Hardliner und Anhänger des ehemaligen Präsidenten Donald Trump, hatte ein Misstrauensvotum gegen McCarthy auf die Beine gestellt.
Zwar stellten sich die meisten Republikaner hinter McCarthy. Doch sieben weitere Mitglieder des rechtsgerichteten „Freedom Caucus“ folgten Gaetz und stimmten ebenso wie sämtliche Demokraten dessen Antrag zu. Angesichts der hauchdünnen Mehrheit, über die Republikaner im Repräsentantenhaus verfügen, reichten die Stimmen der rechtsgerichteten, sogenannten „Verrückten 8“ („Crazy 8“) aus, um einen der mächtigsten Politiker in Washington seines Amtes zu entheben.
Mehr zum Thema: Warum das McCarthy-Beben so gefährlich ist
Was in den Wochen danach geschah, war ein Flickwerk aus Pleite, Pech und Pannen. Der favorisierte Steve Scalise, einer der ranghöchsten Republikaner, scheiterte in seinem Anlauf auf die McCarthy Nachfolge. Ein weiteres Opfer also der „Crazy 8“, denen Scalise zu moderat war. Und dies, obwohl er zu den Konservativsten in seiner Partei zählt. Dann warf der rechtsgerichtete Jim Jordan, der Vorsitzende des Justizausschusses, seinen Hut in den Ring.
Lesen Sie dazu auch: Donald Trump will im Drama um Repräsentantenhaus mitmischen
Republikaner wieder am Nullpunkt angelangt
Ihm wurden wiederum gemäßigte Republikaner zum Verhängnis, die gegen den feurigen Abgeordneten votierten. Jordan ist im Kongress als „Flammenwerfer“ bekannt. Schließlich leugnet er bis heute den Ausgang der Präsidentschaftswahl vor drei Jahren und versucht von Donald Trumps Strafprozessen abzulenken, indem er Ermittlungen gegen Präsident Joe Bidens Sohn Hunter eingeleitet hat. Moderate Republikaner, deren Zahl mit jeder der drei Abstimmungen wuchs, meinten, dass es der Partei schlecht zu Gesicht stehen würde, wenn sie den Aufwiegler und Heißsporn Jordan zum Aushängeschild des Repräsentantenhauses küren. Also strich auch er die Segel.
Nun, drei Wochen nach Beginn des selbstzerstörerischen Dramas, sind die Republikaner zumindest einen Schritt weiter gekommen. Sie einigten nach einer Serie von internen Abstimmungen auf Tom Emmer, einen konservativen Abgeordneten aus Minnesota, als Kandidaten für „Speaker“. Emmer zählt zwar zum rechtsgerichteten Flügel der Partei. Er lehnt Schwangerschaftsabbrüche ab, leugnet den Klimawandel, wollte die staatliche Krankenversorgung Obamacare abschaffen und unterstützte den Bau einer Mauer entlang der US-mexikanischen Grenze.
Milliarden an Hilfsgeldern fü die Ukraine und Israel liegen brach
Gleichwohl hat er ein bedeutendes Problem: Emmer ist nur einer von zwei der acht Kandidaten, die am Montagabend ins Rennen gegangen waren, die Bidens Wahlsieg anerkannt haben und nach dem Aufstand im Kapitol das Ergebnis zertifiziert hat. Damit hat er sich wiederum den Zorn von Donald Trump und dessen Anhängern zugezogen, die versuchen wollen, Emmers Bestätigung zu torpedieren.
Durchaus möglich ist, dass er auf die Unterstützung von Demokraten angewiesen sein wird, denen der Republikaner andererseits viel zu konservativ ist. Völlig ungewiss bleibt also, ob Emmer auch nur annähernd die notwendigen 217 Stimmen auf sich vereinigen kann. Er steht damit vor demselben Dilemma wie es bei früheren Abstimmungen andere Kandidaten taten: Ihm könnten die von Matt Gaetz angeführten „Verrückten acht“, allesamt Trumpisten, einen Strich durch die Rechnung machen.
Unterdessen dauert die Paralyse im Kongress an. So liegen 105 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern für die Ukraine und Israel brach. Auch wird es nicht möglich sein, eine Übergangsfinanzierung zu billigen, die in drei Wochen einen Verwaltungsstillstand verhindern würde. Und die Frustration unter den Republikanern wächst.
„Blamage für die Partei und Nation“
„Eigentlich ist jeder Tag, an dem wir handlungsfähig sind, ein Shutdown für sich“ sagte ein frustrierter Michael McCaul, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Repräsentantenhaus.
Mike Turner vom Geheimdienstausschuss spricht von einem „Rubik-Zauberwürfel, den wir dauernd auf neue Farben drehen, aber keine Lösung finden“. Besonders treffend formulierte es der entmachtete Kevin McCarthy. Die Republikaner könnten nicht zaudern und den Kopf in den Sand stecken, meint er. „Wir müssen einander in die Augen schauen und ernsthaft an einer Lösung arbeiten“, so McCarthy. Er beschreibt die politische Pattsituation als „Blamage für die Partei und Blamage für die Nation“.