Berlin. Der Wirtschaftsweise Martin Werding wirft der Ampel-Koalition „Klientelpolitik zugunsten der Alten“ vor. Was er stattdessen vorschlägt.
Seit Monaten arbeiten Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) an einem großen Gesetzespaket zur Rente. Die Ampelkoalition hat sich vorgenommen, eine Haltelinie beim Rentenniveau einzuziehen und eine neue Finanzierungsquelle für die Rentenversicherung zu erschließen. Die Details sollen noch in diesem Sommer publik gemacht werden. Der Wirtschaftsweise Martin Werding äußert im Interview bereits jetzt erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Reform.
Wie sicher ist die Rente?
Martin Werding: Niemand, der heute oder in näherer Zukunft Rente bezieht, muss befürchten, dass die Rentenversicherung wegen Geldmangels die Zahlungen kürzt. Ob Rentner über die Runden kommen, hängt davon ab, wie viel sie während ihrer Berufstätigkeit verdient und ob sie privat vorgesorgt haben. Die entscheidende Frage ist, wie das Rentensystem auf Dauer finanziert werden kann. Es geht jetzt darum, die Weichen für 2040 und 2060 zu stellen.
Die Regierung will das Rentenniveau dauerhaft bei mindestens 48 Prozent sichern. Der Wert beschreibt das Verhältnis zwischen der Standardrente und dem Durchschnittseinkommen. Was halten Sie von dem Vorhaben?
Werding: Das ist ein ungedeckter Scheck. Die Politik ist dabei, die Lasten der alternden Gesellschaft einseitig den Jungen aufzubürden. Die werden diese Klientelpolitik zugunsten der Alten bezahlen müssen. Niemand in der Politik vertritt hier die Interessen jüngerer Erwerbstätiger. Die SPD nicht, die Gewerkschaften nicht, auch die Union nicht – um nur die prominentesten Akteure zu nennen.
Das müssen Sie erläutern!
Werding: Bis etwa 2035 werden die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation in Rente gehen. Die Zahl der Rentner steigt stark an, die der Beitragszahler sinkt. Zugleich werden die Menschen immer älter, beziehen also länger Rente. Noch sind die Finanzen der Rentenversicherung solide. Es gibt Reserven, das Rentenniveau liegt etwas oberhalb von 48 Prozent. In einigen Jahren werden wir aber von oben kommend au
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f diesen Wert stoßen. Und wenn der gesetzlich garantiert ist, stellt sich die Frage, wie sich das bezahlen lässt.
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Und wie ließe sich das bezahlen?
Werding: Die Beiträge werden stärker steigen müssen, als das unter geltendem Recht der Fall wäre. Für ein paar Jahre hält man das aus. Aber in der längeren Frist, so etwa zwischen 2035 und 2040, werden die Beitragssteigerungen im Rentensystem und den anderen Sozialversicherungen so stark ausfallen, dass wirklich eine enorme Belastung auf die Beitragszahler zukommt. Das kann für die Volkswirtschaft dramatische Konsequenzen haben.
Woran denken Sie?
Werding: Unternehmen könnten sagen: In einem Land, in dem es an Fachkräften fehlt und in dem Arbeit so teuer ist, investieren wir weniger. Arbeitnehmer könnten sich verstärkt im EU-Ausland nach Jobs umsehen. Auch qualifizierte Zuwanderer, die wir dringend brauchen, könnten sich angesichts einer hohen Steuer- und Abgabenlast gegen Deutschland entscheiden.
Können Sie das mit Zahlen untermauern?
Werding: In der Rentenversicherung haben wir seit Jahren einen Beitragssatz von 18,6 Prozent. In zwei bis drei Jahren werden die Reserven der Rentenkasse aufgebraucht sein. Dann springt der Beitragssatz sehr schnell in den Bereich von 20 Prozent. Er steigt dann kontinuierlich an und erreicht zum Beispiel 2040 rund 21 Prozent und 20 Jahre später etwa 23 Prozent. Wenn die Politik jetzt wie geplant eine Haltelinie beim Rentenniveau einführt, dann sind wir 2040 nicht mehr bei einem Satz von 21 Prozent, sondern bereits bei 22 Prozent.
Mit Verlaub: Das ist noch ziemlich lange hin.
Werding: Ja. Aber viele Leute, die bereits heute im Berufsleben stehen, werden davon voll betroffen sein. Die Rente ist ein schwerfälliger Tanker. Deshalb muss die Politik jetzt die richtigen Entscheidungen fällen. Die Umstände sind eher günstig. Wir hatten 15 Jahre lang eine sehr gute Entwicklung am Arbeitsmarkt.
Der Bund könnte auch seinen Zuschuss an die Rentenversicherung erhöhen. Wäre das eine Option?
Werding: Der Zuschuss liegt bereits jetzt bei rund drei Prozent der Wirtschaftsleistung, was vor den letzten Krisenjahren 30 Prozent des Bundeshaushalts entsprach. Im laufenden Jahr sind das gut 120 Milliarden Euro. Bei unveränderter Rechtslage und einem Haushalt, der wieder im Einklang mit der Wirtschaft wächst, würde der Bundeszuschuss bis 2040 auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder 35 Prozent des Etats steigen.
Und bei Einführung der geplanten Haltelinie?
Werding: Bei einem konstanten Beitragssatz würde dann 2040 bereits fast jeder zweite Euro im Bundeshaushalt für die Rente draufgehen. Das Geld fehlte dann an anderer Stelle – etwa bei Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung oder Sicherheit.
Ihre Kollegin Veronika Grimm, ebenfalls Mitglied im Sachverständigenrat, hat kürzlich vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter automatisch an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Ließen sich damit die Renten-Finanzen stabilisieren?
Werding: Bis 2031 steigt die Altersgrenze bekanntlich schrittweise auf 67 Jahre. Danach führt an einer
weiteren Anhebung kein Weg vorbei. Ich bin auch dafür, einen Automatismus zu entwickeln. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre allerdings nur ein erster Schritt. Mit ihm allein ließe sich die ungünstige demografische Entwicklung nicht ausgleichen.
Wie sollte der zweite Schritt aussehen?
Werding: Wir müssen Wege finden, das im Umlageverfahren finanzierte Rentenvolumen sozialverträglich einzudampfen. Ein Weg wäre, Änderungen am so genannten Nachhaltigkeitsfaktor vorzunehmen…
…bei dem die regelmäßigen Rentenanpassungen rückgekoppelt werden an die demografische Entwicklung.
Werding: Richtig. Bisher ist der Faktor so eingestellt, dass ein Viertel der Last durch verminderte Anpassungen auf die Rentner entfällt und drei Viertel auf die Beitragszahler. Das könnte man auf ein Verhältnis 50 zu 50 drehen. Der Nachteil wäre, dass Ruheständler mit geringen und mit hohen Renten das gleichermaßen zu spüren bekämen.
Wie könnten Alternativen aussehen?
Werding: Es gibt auch die Idee, die Höhe der Renten in Zukunft so zu berechnen wie bisher, bei den jährlichen Anpassungen aber nur noch einen Inflationsausgleich zu zahlen. Die Kaufkraft der Rentner würde gesichert, es gäbe aber keine Teilhabe mehr an der Lohnentwicklung. Zu spüren bekämen das vor allem Menschen, die lange leben. Unabhängig davon, wie schließlich das Rentenvolumen begrenzt wird, muss die Politik dringend beginnen, ergänzend eine wirksame Kapitaldeckung aufzubauen.
Die Koalition plant den Aufbau eines „Generationenkapitals“. Jedes Jahr sollen zehn Milliarden Euro aus dem Haushalt in einen Fonds fließen, dessen Erträge ab Ende der 2030er Jahre die Rentenversicherung entlasten. Was halten sie davon?
Werding: Das ist ganz nett, aber viel zu wenig.
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Rente in Deutschland - Mit diesen Werten rechnet die Rentenversicherung 2022
Monat (West) | Ost | |
Bezugsgröße | 3.290 Euro (Monat) | 3.150 Euro (Monat) |
Durchschnittsentgelt 2022 (vorläufig) | 3.242 Euro (Monat) | 3.111 Euro (Monat) |
Rentenwerkt aktuell (von 01.07.21 bis 01.07.22) | 34,19 Euro | 33,47 Euro |
Rentenwert Prognose (von 01.07.2022 - 01.07.2023) | 36,02 Euro | 35,52 Euro |
Beitragssatz | 18,6 Prozent | 18,6 Prozent |
Beitragsbemessungsgrenze | 7.050 Euro (Monat) | 6.750 Euro (Monat) |
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Warum?
Werding: Für die Zahlungen an den Fonds will die Koalition Kredite aufnehmen. Die müssen bedient werden, was die Rendite schmälert. Unterstellen wir mal, dass Mitte der 2030er Jahre 200 Milliarden Euro im Fonds sind und er nach Abzug der fälligen Zinszahlungen im Schnitt pro Jahr fünf Prozent Rendite abwirft. Das wären dann zehn Milliarden Euro. Unser Rentensystem bewegt bereits jetzt eine Milliarde Euro pro Tag. Mit den Erlösen eines ganzen Jahres kämen wir also, Stand jetzt, gerade einmal zehn Tage über die Runden.
Was schwebt Ihnen stattdessen vor?
Werding: Wir brauchen neben der umlagefinanzierten Rentenversicherung eine kapitalgedeckte Säule, in der die Versicherten mit ihren Beiträgen im Laufe des Arbeitslebens individuelle Ansprüche erwerben. Wer viel einzahlt, bekommt viel heraus.
Das gibt es doch bereits seit 2002 mit der Riester-Rente.
Werding: Ja. Aber die funktioniert nicht zufriedenstellend. Sie ist freiwillig und nicht verpflichtend, die Konditionen sind oft unattraktiv. Im neuen System bräuchte es eine stärkere Konkurrenz der privaten Anbieter und zugleich ein staatlich verwaltetes Standardprodukt. Das würde allein durch seine Existenz den Wettbewerb im Markt verstärken. An diesem Produkt würden sämtliche Versicherte teilnehmen, die sich nicht für ein kommerzielles Angebot entscheiden.
Wäre der Staat überhaupt in der Lage, so etwas erfolgreich zu managen?
Werding: So viel Zutrauen sollten wir schon zur öffentlichen Hand haben. In anderen europäischen Ländern gelingt das schließlich auch.